Das zarte Gift des Morgens
der Mordkommission fest beim Arm. »Aber schnell, sonst schaffen wir es nicht mehr!«
Kolossow dachte gar nicht daran, ihr zu widersprechen. Allerdings strebte Katja in eine ganz unerwartete Richtung -weg von ihrem Haus, zur Anlegestelle am Fluss. Sie liefen die Treppe hinunter. Auf dem Dampfer wollte man schon das Fallreep einziehen, aber sie kamen gerade noch rechtzeitig.
»Bis zur Kiewskaja und zurück, einverstanden?«, fragte Katja. »Seit hundert Jahren träume ich von einer nächtlichen Flussfahrt.«
»Wie du möchtest«, stimmte Nikita zu.
»Nicht wie ich, sondern wie du möchtest.« Katja ging ein wenig auf Distanz. Er wollte ihr helfen, über das Reep auf das offene Oberdeck zu klettern, aber sie schaffte es auch ohne seine Unterstützung.
»Hier stört uns niemand, Nikita. Den ganzen Tag wollte ich dich schon sprechen, aber ich hab dich einfach nicht zu fassen bekommen. Walentina Sawarsina hat mich angerufen. Was ist das für eine Sache in Stolby? Walentina sagte mir, ein Fall von Vergiftung, im Körper des Opfers sei ein Gift gefunden worden. Du weißt doch, Nikita, wie ich die ganze Zeit nach einem solchen Thema . . .«
»Ich weiß«, unterbrach Kolossow sie kurz angebunden. »Also nur aus diesem Grund hast du beschlossen, den Abend mit mir zu verbringen?«
»Das war deine Entscheidung, nicht meine«, konterte Katja. »Was gefallt dir denn daran nicht? Hier kann man sich doch wunderbar unterhalten.«
»Über einen Kriminalfall?«
»Worüber denn sonst?«, fragte Katja völlig aufrichtig.
Kolossow schaute sie an. Ihr Blick wirkte so naiv, so erstaunt . . . aber in ihren Augen funkelte es spitzbübisch und erwartungsvoll: Ätsch, reingefallen, hast mir geglaubt, dir Hoffnungen gemacht. . .
Es war wie immer: Die Füchsin war wieder auf der Jagd. Und eigentlich freute er sich sogar darüber.
»Na, und was willst du wissen?«, fragte er.
»Alles.« Katja schüttelte ihr offenes Haar. »Ach, Nikita-Schatz, nun zieh doch nicht so ein tragisches Gesicht. Erzähl schon. Tu’s für mich, im Namen unserer Freundschaft. Ich will über diesen Fall alles wissen, alles! Aber zuerst das Wichtigste: Warum war Aurora heute im Präsidium?«
Kolossow ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Er stieg erst einmal nach unten in den Schiffsbauch und kehrte mit einer Flasche »Kinsmarauli«, Gläsern und einer Schachtel Pralinen zurück – Schokokirschen, Katjas Lieblingskonfekt.
»Sieh mal an«, sagte Katja, »und wieso das jetzt?«
»Auf diesen Abend.« Kolossow schenkte den Wein ein. »Und auf deine Sonnenbräune.«
»Auf unsere Zusammenarbeit.« Katja fand, es sei an der Zeit, das Gespräch wieder in die von ihr gewünschte Bahn zurückzulenken. »Nikita, lieber Nikita, ich sterbe einfach vor Neugierde.«
Kolossow seufzte. Frauen . . .
»Also wie kam es, dass diese Sängerin bei euch aufgetaucht ist?«, fragte Katja ungeduldig.
»Sehr einfach. Sie hat angerufen, ich bin ans Telefon gegangen und habe sie für 14 Uhr bestellt.«
»Wo hat sie angerufen?«
»In der Wohnung des ermordeten Studnjow, auf seinem Handy, das wir beschlagnahmt hatten, einen Festnetzanschluss hatte er nicht. Ich hatte das Handy eingeschaltet, um zu kontrollieren, ob sich jemand melden würde und wenn ja, wer. Am Samstag um elf Uhr vormittags kam der erste Anruf. Aber als ich abnahm, legte der Anrufer sofort wieder auf, er wünschte offenbar kein Gespräch. Am Sonntag hat niemand angerufen. Aber am Montagvormittag meldete sich die Stimme einer Frau. Sie war sehr erstaunt, nicht Studnjow selbst am Apparat zu haben, und sehr erschrocken, als ich sagte, hier spreche die Miliz und Studnjow sei nicht mehr am Leben. Ja, so haben wir uns unterhalten, und dieses Telefonat haben unsere Leute aufgezeichnet. Ich bat die Frau, uns ihre Personalien zu geben und um 14 Uhr ins Präsidium zu kommen. Das ist alles. Zufrieden?«
»Nein«, sagte Katja. »Ich verstehe gar nichts. Also noch mal der Reihe nach. Was ist mit diesem Studnjow passiert? Walentina sagt, er wurde vergiftet, im Polizeibericht steht, man habe ihn vom Balkon gestürzt. Wer ist er denn überhaupt?«
Der Dampfer fuhr gerade an den Sperlingsbergen vorbei. In monotonem Tonfall trug Nikita vor, was sie bisher herausgefunden hatten. Dabei gingen seine Gedanken eigene Wege.
Es war erstaunlich, dass sich bei einem Fall von Giftmord Zeugen meldeten. Und nicht nur einer oder zwei, sondern gleich eine ganze Meute!
Als Nikita heute Mittag ins Büro seines Chefs gerufen worden war, hatte er
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