Das zarte Gift des Morgens
kennen lernte. Als sie Simonow erblickte, war sie verloren. Er war so ganz anders, als sie gedacht hatte. Was man auch immer in der Küche und im Kellnerraum über ihn geredet und getratscht hatte – es stimmte nicht.
Er merkte sofort, welchen Eindruck er auf sie gemacht hatte. Und auch er warf ein Auge auf sie. Alles geschah viel zu schnell, als dass sie ernsthaft über die Konsequenzen hätte nachdenken können. Sie erlaubte ihm anfangs viel, sehr bald schon alles. Dabei redete sie sich ein, dass Serafim, auch wenn er mit der Potechina zusammenlebte, mit ihr ins Bett ging und ihr Geld verjubelte, sie doch keineswegs liebe. Schließlich war die Potechina alt, welk und angemalt, rannte von einem Kosmetiksalon zum anderen. Sie dagegen war jung, schön, blond, alle Zähne waren noch am Platz, und Cellulitis hatte sie auch nicht, sondern eine Haut wie ein Pfirsich. Wenn Serafim erst einmal den Unterschied zwischen dieser dicken, vom Botox aufgeschwemmten Scharteke und ihr, der jugendlich frischen Lena Worobjowa, erkannte, dann würde er die Potechina bestimmt verlassen, und in Jelenas Leben würde sich alles zum Besten fügen: Heirat mit dem geliebten Mann, Kinder, ein gemütliches Heim, vielleicht ein eigenes Geschäft, nie mehr für andere arbeiten müssen. Zufälle im Leben gibt es nicht, hatte ihr Vater immer gesagt, es gibt nur Gottes Vorsehung, und deshalb konnte ihre Begegnung mit Serafim kein Zufall sein, sie musste nur ganz, ganz fest beten, dass diese Begegnung nicht einfach mit einer betrunkenen Bumserei in einem am Straßenrand geparkten Auto endete, sondern mit etwas Größerem . . . Mit Liebe, Heirat, Kindern.
Natürlich, für sein Glück muss man kämpfen. Es mit Klauen und Zähnen verteidigen. Jelena hatte sich eine solche Kampfbereitschaft, eine solche Entschlossenheit und Zähigkeit gar nicht zugetraut. Wie ein Fluss über die Ufer tritt, so brach es aus ihr heraus, sobald sie vom Gynäkologen die Ergebnisse des Schwangerschaftstests erfuhr. Der Test war positiv. Sie musste sich entscheiden – sollte sie das Kind behalten, oder sollte sie abtreiben.
Sie beschloss, das Kind zu bekommen. Aber auch Simonow sollte mitreden dürfen. Sie wollte für ihr Glück kämpfen. Mit allen Mitteln. Selbst solchen, die, spräche man sie laut aus, schrecklich, unglaublich klingen würden.
»Lena, wieso bist du heute so sonderbar?«
Simonow war noch gar nicht weggefahren, obwohl er gesagt hatte, er müsse los. Er saß am Fußende des Bettes, immer noch ohne Hemd, Socken und Schuhe. Träge rauchte er eine Zigarette.
»Bist du eigentlich auch schon verhört worden, Lena? Du weißt schon, dieser Kommissar, der heute aufgekreuzt ist. Als ich dich im Restaurant gesehen habe, wusste ich gleich, weshalb du gekommen warst, und bin hierher gefahren. Dummerchen, so was macht man doch nicht. Na, hat dieser Typ von der Miliz schon mit dir gesprochen?«
»Ja«, sagte Lena, ohne den Kopf zu wenden.
»Schade um Maxim. So zu sterben . . . Es hat mich fast umgehauen, als ich davon erfuhr. Ich war zusammen mit Aurora und Mochow bei der Miliz, Aurora war ja fix und fertig. Ich dachte schon, sie kriegt einen hysterischen Anfall, direkt im Büro des Polizeipräsidenten.« Simonow blies einen Strom von Rauch aus. »Wonach hat dieser Kommissar dich denn gefragt?«
»Nach der Speisekarte«, sagte Jelena herausfordernd.
»Nach der Speisekarte? Was hat die denn damit zu tun?« Simonow beugte sich zu ihr herüber. »He, mein Herz, was meinst du damit?«
»Lass mich in Ruhe.« Sie versuchte, ihn mit dem Fuß wegzustoßen. Aber er packte sie am Knöchel und zog sie zu sich heran. Gleichsam spielerisch, aber doch auch nachdrücklich -ihren Widerstand überwand er mit Leichtigkeit. Jelena spürte einen scharfen Schmerz – die Asche seiner Zigarette war auf ihre nackte Hüfte gefallen. Das war natürlich nur ein Zufall, aber trotzdem . . .
»Lass mich los«, sagte sie heiser und voller Hass.
Er dachte gar nicht daran, lachte nur und presste ihren Knöchel noch stärker. Die Aschekrümel versengten ihre Haut, ein spitzer, punktartiger Schmerz wie der Stich einer Stecknadel.
»Lass mich los, du Mistkerl, ich hasse dich!«, schrie sie und begann zu schluchzen. Sie hatte das nicht gewollt – es kam ganz von selbst. Lange, zu lange hatte es sich in ihr angestaut -nun brach es sich Bahn. Sie entwand sich seinem Griff, versuchte sich aufzurichten. Nein, das war kein Zufall. Bei diesem Treffen, diesem verfluchten, schicksalhaften Treffen, auf
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