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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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verhören?«
    »Frühstücken Sie nur in Ruhe zu Ende«, sagte Kolossow. Er bemerkte, dass Simonow mittlerweile verschwunden war. Auch die Kellnerin Jelena war nicht mehr zu sehen. »Wir unterhalten uns später. Sie werden eine Vorladung ins Präsidium bekommen.«
    »Ins Präsidium?« Anfissa Berg zog ihre dunklen, zu dünnen Strichen ausgezupften Augenbrauen hoch. »Wo soll das sein, in der Petrowka?«
    »Du lieber Himmel«, brummte Nikita, »als ob es außer der Petrowka keinen Ort gäbe, wo unsereins sich mit einer charmanten Frau unterhalten könnte. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, dann werden wir uns verabreden, und Sie kommen zu uns in die Nikitski-Straße.«
    »Ach, die Nikitski-Straße! Die kenne ich, da arbeitet eine Bekannte von mir. Hier«, sie zog aus ihrer schicken, mit mexikanischen Ornamenten bestickten Beuteltasche eine Visitenkarte, »da stehen alle meine Telefonnummern drauf. Es tut mir so schrecklich Leid um Maxim. So ein furchtbares Unglück. . .«
    Eigentlich hätte Kolossow auch gleich hier im Restaurant mit ihr reden können. Aber er wollte Gäste und Angestellte lieber trennen. Diese bemalten Wände, diese niedlichen Sofas in den Nischen, der Springbrunnen, die gurrenden Täubchen, die leckeren Gerüche, die die Luft des Speisesaals sättigten, das alles war nicht dazu angetan, eine sachliche Atmosphäre für ein unvoreingenommenes Zeugenverhör zu schaffen. Noch dazu in einem Fall von Giftmord, einem so seltenen Verbrechen, dass es Kolossow in seiner Berufspraxis bisher erst ein einziges Mal begegnet war. Dieser lange zurückliegende Fall hatte ihm damals eine Menge Scherereien gemacht. Und der neue Fall – das spürte Nikita deutlich -versprach, noch schlimmer zu werden.
    »Auch Ihren Chefkoch muss ich unbedingt sprechen. Er bekommt ebenfalls eine Vorladung, richten Sie ihm das bitte aus«, teilte er Maria mit. Sie reichte ihm eine Visitenkarte des Restaurants.
    »Unter dieser Telefonnummer können Sie ihn immer erreichen. Oder geben Sie mir besser noch Ihre Dienstnummer. Sobald Iwan Grigoijewitsch kommt, werde ich ihm sagen, er soll sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
    »Iwan Grigoijewitsch?«, fragte Nikita automatisch zurück.
    »Poljakow, mein Chefkoch«, antwortete Maria. »Mit ihm wollen Sie doch sprechen, oder nicht?«

9
    Alles war umsonst gewesen – sie hätte sich gar nicht so zu beeilen brauchen. Dieses Wiedersehen hatte Jelena Worobjowa sich ganz anders vorgestellt.
    Zärtlichkeit, Wärme hatte sie sich gewünscht. Liebe, Küsse, Berührungen. Aber er tat seine Sache so rasch und energisch wie eine Maschine, fast ohne Emotionen, stand dann auf, als wäre nichts gewesen, streifte sich Slip und Hose über und zog den Reißverschluss zu.
    Jelena wollte auch schon aufstehen, aber er klopfte ihr herablassend auf den Hintern wie ein Jockey seiner Stute, die gerade ein Rennen gewonnen hat.
    »Relax, Kindchen.«
    »Nenn mich nicht Kindchen«, sagte Jelena erbost. »Ich hasse es, hörst du, ich hasse es, wenn du mich genauso anredest, wie sie es tut!«
    Er grinste nur, zuckte die Schultern und ging auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Jelena drehte sich um und biss in eine Ecke des Kopfkissens, um nicht laut loszuheulen.
    Nein, so hatte sie sich in ihren Träumen ihr heutiges Treffen wirklich nicht vorgestellt. Hals über Kopf war sie ins Restaurant gestürzt, als sie erfahren hatte, dass er dort war, hatte der Chefin irgendwas vorgelogen, war dann wieder zurückgehetzt, in die Wohnung am Universitätsprospekt. Unterwegs hatte sie einen Wagen gestoppt, weil sie ganz verrückt vor Angst war, sie könne nicht rechtzeitig zurück sein, sich verspäten, und er vielleicht etwas eher kommen und nicht auf sie warten, sondern gleich wieder kehrtmachen und wegfahren.
    Das hatte er ja auch früher schon getan, da gab es nichts zu beschönigen. Er hatte ein Treffen verabredet und war nicht erschienen. Unbeständig war er, wie ein Chamäleon. Verlogen. Sogar sein Name war verlogen: Serafim. Wer bitte nennt in unserer Zeit einen Mann Serafim? Die Zunge will einem ja nicht gehorchen, dieses Tier mit einem Kirchennamen anzureden, dem Namen eines körperlosen Geistes mit sechs schneeweißen Flügeln und einem Paar scharfer Augen, die unermüdlich die Tore des Paradieses bewachen.
    »Lena, wirf mir doch mal das Feuerzeug rüber . . . He, was hast du? Worüber denkst du nach? Etwa über mich?«
    Jelena rührte sich nicht, warf ihm auch kein Feuerzeug zu, presste nur ihr Gesicht noch fester

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