Das Zauberer Handbuch
Charaktere an die Hand geben, damit er sich mit ihnen identifizieren kann.
Im Hauptteil ist Platz für alle Abenteuer, jene Irrungen und Verwicklungen, die zur Reise des Helden gehören und die wir gleich noch ein wenig näher betrachten wollen – und auch hier muss die Handlungsstruktur keineswegs so linear und eindimensional verlaufen, wie es das einfache Grundmuster vermuten lässt: Unterschiedliche Erzählebenen und -perspektiven, Nebenhandlungen, Rückblicke und dergleichen sind legitime stilistische Mittel, um ein komplexes Handlungsgewebe zu flechten, wie es z.B. George R.R. Martin in DAS LIED VON EIS UND FEUER tut, das es in Sachen Vielschichtigkeit und Komplexität jederzeit mit einem historischen Drama aufnehmen kann. Martin liegt damit im Trend der Zeit, denn häufige Szenen- und Perspektivwechsel sind heute, wohl bedingt durch die an visuelle Medien gewöhnte Leserschaft, durchaus nicht ungewöhnlich. Meister Tolkien hingegen hatte es in DIE ZWEI TÜRME noch vorgezogen, seine beiden Haupterzählstränge nicht miteinander zu verflechten, sondern komplett zu separieren und nacheinander zu erzählen, was aus heutiger Sicht zunächst befremdlich wirkt, aber zum getragenen, epischen Stil des HERRN DER RINGE passt. Schließlich könnte man DIE GEFÄHRTEN, den ersten Band, mit einiger Berechtigung auch als eine einzige Exposition bezeichnen (wohl auch der Grund dafür, dass sich viele Leser mit dem »Erstkontakt« schwertun); und in DIE RÜCKKEHR DES KÖNIGS nimmt sich Tolkien auch sehr viel mehr Zeit für retardierende Momente, als wir es heute tun würden. So unterschiedlich beide Sagas jedoch dem Aufbau nach sein mögen – beiden ist gemeinsam, dass sie über eine klar definierte Grundstruktur verfügen, dass die Geschichten eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Schluss haben.
Was Letzteren betrifft, so muss ich gestehen, dass ich kein Freund offener Enden bin, die es dem Leser überlassen, sich den Rest selbst dazuzudenken – das sieht in meinen Augen immer ein wenig so aus, als hätte sich der Autor nicht entscheiden können oder wollen, wie seine Geschichte ausgeht. Wer den Leser an die Hand nimmt und ihn durch sechs- oder siebenhundert Seiten führt, sollte ihn meiner Ansicht nach nicht auf der letzten Seite im Regen stehen lassen. Anders verhält es sich natürlich bei Romanen, die von Beginn an als Trilogie oder Fortsetzungsgeschichte konzipiert sind und die mit einem Cliffhanger enden, also mit einem spannenden Ende, das nach Fortsetzung schreit. Allerdings sollte ein solcher Cliffhanger von Beginn an geplant und in die übergeordnete Dramaturgie einbezogen sein, denn auch eine Romantrilogie folgt insgesamt betrachtet dem Schema von Einleitung, Hauptteil und Schluss.
Die Elemente von Exposition, Handlungsentwicklung und -abschluss ins rechte Verhältnis zu setzen, ist keine ganz leichte Aufgabe, die vor allem viel Übung verlangt – und wie bei allem, was man übt, sollte man mit einem einfachen Grundmuster beginnen. Aus dem verständlichen Wunsch heraus, sich mit ihrem Werk aus der Masse herauszuheben, versuchen sich neue Autoren oft an einer komplizierten Variante, die anders sein soll als alles, was es bislang gab – an der sie letztlich jedoch aufgrund zu geringer erzählerischer Erfahrung scheitern. Es ist ein wenig wie beim Jazz: Zuerst sollte das Grundthema beherrscht werden. Dann kann man anfangen, darüber zu improvisieren.
Übung macht den Zaubermeister
Mit anderen Worten: denkt euch zunächst einfache Geschichten aus. Linear verlaufende Erzählungen, die von A nach B führen, und deren Exposition, Handlungsentwicklung und Auflösung klar definiert sind. Dann nehmt eine zweite Handlungsebene hinzu, beispielsweise die des Bösewichts, und flechtet sie in die bestehende Geschichte ein. Dann vielleicht noch eine dritte, die das Geschehen aus der Sicht einer weiteren Hauptfigur zeigt – ihr werdet feststellen, dass das Handlungsgerüst, das ihr entwickelt habt, nun schon über einige Komplexität verfügt.
Eine solche Geschichte als Roman auszuformulieren, verlangt bereits eine gewisse Portion Geschick, Ausdauer und erzählerisches Können, und ich empfehle, einige Romane oder zumindest Erzählungen nach mehr oder minder klassischem Spannungsmuster zu verfassen, ehe man beginnt, dieses zu verfremden und zu variieren. Dabei muss es sich beileibe nicht jedes Mal um dicke Schmöker handeln – als ehemaliger Heftroman-Autor kann ich aus Erfahrung sagen, dass vierundsechzig
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