Das Zauberer Handbuch
davon aber später mehr, wenn es um die Figurengestaltung geht.
Für den Feind ist außerdem wichtig, dass er – und hier nähern wir uns schon fast wieder den Forderungen des Aristoteles an – eine gewisse Fallhöhe besitzt, denn letztlich ist der Triumph des Helden immer nur so groß wie der Feind, über den er den Sieg davonträgt: Mächtige Zauberer, grausame Könige, ruchlose Eroberer und brutale Tyrannen geben prächtige Schurken ab. Apropos Fallhöhe – ist euch schon einmal aufgefallen, dass Endgegner vor allem im visuellen Medium Film häufig dadurch das Zeitliche segnen, dass sie in die Tiefe stürzen? Der Fall, ob nun metaphorisch oder physisch, ist ein seit Jahrtausenden gebräuchliches Motiv, um ultimative Bestrafung auszudrücken: Je höher ein Schurke gestiegen ist, desto tiefer muss er fallen, damit die anfängliche Ordnung wiederhergestellt wird, hinzu kommen natürlich Assoziationen, die die Tiefe mit der Unterwelt in Verbindung bringen oder, nach christlicher Lesart, mit der Hölle.
In INDIANA JONES UND DER LETZTE KREUZZUG werden gleich zwei Bösewichter von gähnenden Abgründen verschlungen; in DIE RÜCKKEHR DER JEDI-RITTER ist es der böse Imperator, der in die Tiefe stürzt. Auch bei Alfred Hitchcock wird fleißig gestürzt, ob in DER UNSICHTBARE DRITTE oder im fast zwei Jahrzehnte früher entstandenen Streifen SABOTEURE, auch berühmte JAMES BOND-Schurken wie Goldfinger oder Blofeld haben sich mit einem Sturz in ungeahnte Tiefen verabschiedet. In Disney-Filmen ist die lotrechte Entsorgung von Schurken besonders häufig, wohl auch deshalb, weil sie vergleichsweise unblutig ist – angefangen vom Klassiker SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE bis hin zu DIE SCHÖNE UND DAS BIEST.
Die tiefe Unterwelt ist es auch, in die der Held wie einst Orpheus hinabsteigen muss, um dem Feind zu begegnen, der nicht selten ein finsteres Domizil sein Eigen nennt. In vielen JAMES BOND-Streifen findet der Showdown in der Höhle des Löwen statt, die sich in DER SPION, DER MICH LIEBTE unter Wasser, in IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT auf einem Schweizer Berggipfel und in MOONRAKER im Weltraum befindet; aber auch der Todesstern aus STAR WARS, der Tempel des Todes aus dem zweiten INDIANA JONES-Film, der Einsame Berg aus DER HOBBIT, die Feste Morgon aus Wolfgang Hohlbeins MÄRCHENMOND oder das Eislabyrinth Urgulroth aus meiner LAND DER MYTHEN-Saga sind Inkarnationen solcher Horte des Bösen, in die der Held eindringen muss, will er die ultimative Prüfung bestehen und den Feind besiegen.
Komplexe Systeme
In Reinkultur wird man die fünf genannten Typen jedoch sicher nur im Märchen antreffen, wo die Guten noch richtig gut und die Bösen noch verdammt böse sind. Ein Roman oder Film verlangt nach komplexeren Gebilden, die dadurch entstehen, dass die handelnden Figuren zumindest zeitweise durchaus Charakteristika anderer Typen annehmen können. Natürlich wird eine Elfin nicht mal kurz zum Ork mutieren (obwohl ich, wie mancher vielleicht wissen wird, auch das schon fertiggebracht habe), aber die Aufgaben, die eine Figur innerhalb der Handlung und im Bezug auf andere Figuren zu übernehmen hat, können durchaus Änderungen unterworfen sein. Je dramatischer diese Veränderungen sind, desto zuträglicher ist es der Spannung, allerdings müssen derlei Rollenwechsel auch immer plausibel begründet sein.
Als Beispiel habe ich STAR WARS gewählt, weil diesen Film nun wirklich jeder kennt und er beispielhaft vorexerziert, wie Figuren durch wechselnde Rollen zueinander in Beziehung treten können. Der eigentliche – und damit »reinste« – Held der Geschichte ist natürlich Luke Skywalker mit Ben Kenobi als Mentor, der ihn in die Geheimnisse der Macht und den Umgang mit dem Laserschwert einführt. Aber auch der viel schnoddriger angelegte Han Solo wird stellenweise zu Lukes Mentor – George Lucas hat ihn dem Vernehmen nach seinem eigenen Mentor Francis Ford Coppola nachempfunden, der ihn ebenfalls stets Kid zu nennen pflegte. Zwar ist Han Solo auch ein Held, dessen mythische Reise beginnt, als er einwilligt, Luke und Ben nach Alderaan zu bringen und dessen Entwicklung abgeschlossen ist, als er seiner anfänglichen Überzeugung zum Trotz hilft, den Todesstern zu zerstören. Damit ist Han Solo aber auch ein Formwandler, da man bis zuletzt nicht genau weiß, wem seine Loyalität gehört – und er wird für einen kurzen Moment zu Lukes Gegner, als er sich auf dem Todesstern weigert, die gefangene Prinzessin
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