Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
der nackten Schulter, ihr Mund war leicht geöffnet und ihre schläfrigen Augen blickten keck, wissend, lockend. Das Haar fiel ihr in dichten Locken über die Schultern und schien ihre vollen Brüste zu kitzeln, die aus einem offenen Mieder hervorquollen. Menina dachte, dass sie eher wie ein Playmate des Monats aus dem sechzehnten Jahrhundert aussah als wie jemand, der in die Sammlung eines Klosters gehörte. Sie beschloss, dem Bild den Titel »Hauptmann Fern á ndez Gal á ns Freundin« zu geben.
Menina zerrte die Bilder zum Fenster, um das letzte Licht zu nutzen, und mit einem Rest Brot gelang es ihr, auf jedem Gemälde den Schriftzug »Trist á n Mendoza« sichtbar zu machen. Die Rahmen waren also tatsächlich ein Hinweis gewesen.
Okay. Nun hatte sie fünf Werke von Trist á n Mendoza gefunden – zwei Landschaften, ein Interieur und zwei Portraits. Sie mochten zwar seltsam und schwer zu ergründen sein, trotzdem war es eine wichtige Entdeckung. Menina wünschte, sie könnte sich darüber freuen, doch ein gleichgültiges »Na und?« war alles, was sie fühlte. Dennoch war ihr Fund gut für die Nonnen. »Nun, Sor Clara, ich habe fünf Bilder von Trist á n Mendoza gefunden.«
Sor Clara sah von ihrem Rosenkranz auf und hielt eine Hand mit gespreizten Fingern in die Höhe. Dann hob sie auch die andere Hand und hielt einen Finger hoch. Dann zählte sie die Finger. »Waren sechs von Trist á n Mendoza. Sechs. Sor Teresa wird bald kommen, Zeit fürs Mittagessen.«
Mittagessen! Menina merkte, dass sie einen Mordshunger hatte. Schließlich hatte sie nichts mehr gegessen, seit sie gestern die Fassung verloren hatte. Sie schob den Gedanken ans Essen beiseite. »Sechs? Sind Sie sich sicher?« Sie ließ ihren Blick über die vollgehängten Wände schweifen.
»Sechs Bilder.« Sor Clara hielt ihre Finger gegen das Licht und betrachtete sie verträumt. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs«, zählte sie auf Spanisch.
Wahrscheinlich war Sor Clara vor Hunger ebenso schwindelig wie Menina. Sie versuchte, ihren Ärger über Hauptmann Fern á ndez Gal á n und sein blödes Geschenk wiederzubeleben, doch inzwischen war sie so erledigt, dass ihr auch das egal war. Sie wickelte Lage um Lage des blassgrünen, gelben und lavendelfarbenen Zellophans ab, nur um zu sehen, was in dem Korb war. Natürlich würde sie keinen der Fische auch nur anrühren, geschweige denn essen, aber es war gemein, Sor Clara nicht wenigstens einen anzubieten. Sie streckte der Nonne den Korb entgegen und Sor Clara strahlte vor Freude, als sie sich einen Fisch aussuchte, ihn aus seiner Folie wickelte und ihn mit einem glücklichen Gesichtsausdruck verspeiste.
Menina sah sich den Korb an, der schier überquoll vor schimmernden, in Folie verpackten Fischen. Okay, einen einzigen blöden Fisch, dachte sie und nahm sich ein großes Exemplar.
»Ist gut?«, fragte Sor Clara.
»Mmmmm«, musste Menina widerstrebend zugeben. Sie suchten sich beide noch einen Fisch aus. Dann waren Schritte zu hören, die Tür flog auf und Sor Teresa rief: »Aha!« Sor Clara zuckte schuldbewusst zusammen. Menina bot Sor Teresa einen Fisch an, was ihr einen barschen Vortrag über Semana Santa bescherte, in der die Nonnen keine Süßigkeiten essen durften. Menina überlegte, wie gut es war, dass sie all die bunten Folienreste auf dem Boden vor Sor Claras Sessel nicht sehen konnte. Sor Clara seufzte und ließ die Hand mit dem halb gegessenen Fisch sinken.
Menina wollte Sor Teresa von den Gemälden erzählen, die sie gefunden hatte, doch bevor sie ausholen konnte, unterbrach Sor Teresa sie: »Alejandro ist wieder hier und sagt, er muss Sie sprechen. Ich sage ihm, er muss sich benehmen, Sie nicht aufwühlen wie gestern. Er weiß, dass ich sehr böse auf ihn bin. Sor Clara! Kommen Sie!«
Verstohlen schob sich Sor Clara das letzte Stück Schokolade in den Mund und folgte Sor Teresa aus dem Raum.
Mit sinkendem Herzen sammelte Menina die Folienreste ein, nahm den Korb mit den Fischen und schloss die Tür zur sala grande . Im Raum war es plötzlich dunkel geworden, der Himmel hatte sich zugezogen und bald würde es regnen. Auch der Besucherraum nebenan war finster und sie setzte den Korb ab, tastete nach den Streichhölzern und zündete eine Kerze an. Heute würde sie sich in würdevolles Schweigen hüllen, nur Ja oder Nein sagen, wenn es unbedingt nötig war, und sonst gar nichts. Allerdings machte sie die Erinnerung an ihren wenig damenhaften Auftritt vom Vortag derart nervös und
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