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Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Titel: Das Zeichen der Schwalbe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Bryan
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Frauen auf, die ein Schiff am Horizont beobachteten. Einige von ihnen kauerten dicht zusammengedrängt, andere knieten auf dem Boden und streckten die Arme nach dem Schiff aus. Um sie herum lagen allerlei Gegenstände, die aus achtlos hingeworfenen Bündeln gefallen waren. Die einzige stehende Gestalt war eine Frau, die einen Arm gegen das Schiff reckte. Trotz ihrer geringen Größe war sie die zentrale Figur. Sie trug einen Umhang, die derselbe Wind, der die Segel des Schiffes blähte, hinter ihr aufbauschte. An Deck standen Männer mit verschränkten Armen, sie starrten nicht an den Strand, sondern himmelwärts in die entgegengesetzte Richtung. Sie ließen die Frauen an Land zurück, das war ganz deutlich zu erkennen. Theseus, der Ariadne auf Naxos zurückließ – das war der einzige klassische Anhaltspunkt, der Menina einfiel, aber sie war sich nicht sicher. Die aufrecht stehende Frau sah irgendwie nicht aus wie eine kretische Prinzessin. Ein paar Soldaten im Hintergrund waren vermutlich Römer.
    Menina betrachtete das Gemälde näher. War es Schimmel oder eine dunkle Wolke am Horizont, dort, wo das blaue Meer und der blaue Himmel aufeinandertrafen? Einer der Matrosen am Heck des Schiffes, eine winzige Gestalt, schien darauf zu zeigen. Nun bemerkte sie, dass alle Sichtlinien der dargestellten Figuren das Auge des Betrachters auf diese Wolke lenkten. Seltsam, anfangs fiel sie kaum auf, doch je länger Menina sie betrachtete, desto mehr dominierte die anscheinend so unbedeutende Wolke das Bild. Und sie sah aus, als bestünde sie aus lauter kleinen Punkten. Allerdings war das Gemälde ziemlich alt, jedenfalls stammte es nicht erst aus dem neunzehnten Jahrhundert, als französische Impressionisten, die Pointillisten, ebenfalls solche winzigen Punkte malten. Ihr Ärger legte sich allmählich. Zumindest ein ganz klein wenig.
    Auch das nächste Bild zeigte eine Gruppenszene. Unter dem Schmutz saßen Frauen und Kinder um einen Tisch, auf dem Becher standen. Auch eine Flasche mit Weidengeflecht, wie sie sie in der Klosterküche gesehen hatte, stand darauf und von außen sahen Männer mit Helmen durch ein Fenster. Auf dem Tisch befanden sich Brotlaibe und ein großer Fisch, über dem Feuer hing ein Kessel. Zuerst dachte Menina, es sei ein Auftragsbild, auf dem die weibliche Verwandtschaft eines gediegenen Bürgers beim Essen gezeigt werden sollte, und, ja, der Fisch war ein christliches Symbol. Die Frauen waren einfach gekleidet – keine Schmuckstücke oder feinen Roben, keine Wimpel oder diese kompliziert gewickelten Turbane, die Frauen aus der Renaissancezeit bisweilen auf Bildern trugen. Abgesehen vom Fisch und einer Kerze gab es keinerlei Hinweise auf den devotionalen Charakter des Gemäldes – keine Heiligen, keine Blumen oder anderen Symbole, die sie mit der Jungfrau in Verbindung brachte, keine Engel oder biblische Anspielungen, die sie identifizieren konnte. Unter dem Dachvorsprung über der Gruppe um den Tisch schienen Vögel ihre Nester zu bauen. Schwalben. Was hatte es denn bloß mit den Schwalben auf sich?
    Das nächste Bild zeigte wieder eine Landschaft, Berge. Dann entdeckte sie unter der Schmutzschicht winzige Gestalten in der rechten unteren Ecke. Eine Gestalt schien den anderen vorauszueilen, sie befanden sich alle auf einem Pfad oder einer Straße oder etwas Ähnlichem, der sich vom rechten unteren Rand nach oben auf die linke obere Ecke zubewegte und in Berge führte, die kleine weiße Tupfen aufwiesen. Sie erinnerten Menina an die weißen Bergdörfer, die sie vom Bus aus in der Ferne gesehen hatte. Jemand – es war wahrscheinlich eine Frau, denn ihr langes schwarzes Haar wehte hinter ihr her und bis auf ein durchsichtiges Hemd schien sie nackt zu sein – rannte vor einer Gruppe von Männern davon, möglicherweise waren es Soldaten. An der Spitze des höchsten Berges war eine dunkle Spalte im Felsen sichtbar. Auf diesem Bild gab es ebenfalls eine Sturmwolke, eine dunkle Masse in der Ferne, von der der Betrachter ahnte, dass sie näherkam. Und die Leute auf dem Bild sahen sie nicht. Auch hier fiel Menina auf Anhieb kein biblisches oder klassisches Thema ein, auf das es sich beziehen könnte.
    Sie wandte sich dem letzten Gemälde zu.
    Wieder ein Portrait, wieder eine dunkelhaarige Frau. Allerdings stand diese Frau nicht kurz vor ihrem Eintritt ins Kloster. Sie war jung und zerzaust, als wäre sie gerade aufgestanden. An ihren Ohrläppchen baumelten Ohrringe, ein bunt gemusterter Schal rutschte ihr von

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