Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Pockenepidemie abgeklungen sei. Doch als wir durch das Tor gingen, versammelte sich im Innenhof ein Trauerzug um eine Totenbahre. Das letzte Opfer, sagte die Pförtnerin, eine der Damen, die auf ihre Scheidung warteten.
»Welche Dame?«, fragte Pía zögernd.
»Eine junge«, sagte die Pförtnerin. »Die Epidemie war schwächer geworden. Es hatte keine neuen Fälle gegeben, doch plötzlich wurde sie krank, und es gefiel Gott, sie den Menschen aus der Hand zu nehmen. Nun bekommen sie weder ihr Bruder, noch ihr Ehemann noch ihr künftiger Ehemann.«
»Nein! Nicht Zarita!« Pía unterdrückte einen Schrei und bevor wir sie aufhalten konnten, sprang sie aus der Kutsche und lief auf die Totenbahre zu. Wie eine Irre schob sie den erschrockenen Priester und die Schwestern beiseite, die sich um die Bahre versammelt hatten, zerrte das Leichentuch weg und rief: »Wer ist es? Wer?« Dann hallte ein schrecklicher Schrei durch den Innenhof. »Zarita! Zarita! Nein, nein, nein! Ich war nicht hier … ich wusste nicht … komm zurück! Verlass mich nicht! Lebe weiter, Zarita! Oh Zarita!«
Sanchia und ich versuchten, die Rasende wegzuziehen, und konnten dabei nicht verhindern, dass unser Blick auf das schreckliche tote Ding auf der Bahre fiel. Die arme Zarita, im Leben so wunderschön, war fürchterlich aufgequollen und entstellt und begann zu faulen, so grotesk es auch scheinen mochte.
Zusammen mit zwei Beatas mussten wir all unsere Kraft aufbieten, um Pía wegzuzerren und in unsere Zelle zu bringen. Dort brach sie hysterisch schluchzend zusammen. Sanchia und ich saßen die ganze Nacht bei ihr und versuchten, sie zu trösten, doch Pía weinte, schrie und stöhnte »Zarita!« wie eine Besessene. Irgendwann im Laufe der Nacht schlief erst Sanchia ein und dann ich, erschöpft von der Reise und von unserer Trauer um Zarita und unsere Sorge um die arme Pía.
Am nächsten Morgen erwachten Sanchia und ich, als wir das Geräusch einer Schere hörten. Wir rieben uns den Schlaf aus den Augen und sahen Pía vollkommen nackt dastehen. Ihr silbriges Haar bedeckte ihre Füße. Sie hatte es sich so dicht an der Kopfhaut abgeschnitten, wie es nur ging. An einigen Stellen blutete ihr Kopf. Die Augen waren in ihre Höhlen gesunken, ein seltsames Licht leuchtete in ihnen. »Alles Fleisch verrottet, alle Schönheit vergeht, selbst Zarita. Nur die Seele bleibt und die Dinge der Seele. Gott hat mir die Augen geöffnet und mir meine Berufung aufgezeigt. Ich muss sofort zur Oberin gehen und es ihr sagen.«
Sanchia und ich tauschten einen erschrockenen Blick. »Ja, wir sollten sofort zur Oberin gehen«, pflichtete Sanchia ihr bei und schob ihre Füße in die Schuhe, während ich schnell die Schere versteckte. »Aber zieh dir bitte erst dein Hemd an, ja?«
Die Oberin bestand darauf, dass wir sie mit Pía allein ließen. Wir standen unschlüssig vor der Tür, hörten die gemessene Stimme der Oberin und Pías wehklagende Entgegnungen, ein unheimlicher Laut, der immer eindringlicher wurde und sich schließlich zum Kreischen einer Irren steigerte. Sanchia stürzte davon, um Hilfe zu holen, und kehrte mit vier kräftigen Beatas aus dem Hospital zurück. Die Oberin rief sie herein und gemeinsam packten sie die sich windende, tretende und Zähne fletschende Pía und brachten sie weg. Pías schrille Schreie voller Seelenqual folgten uns, bis wir uns die Ohren zuhielten und weinend in unser Zimmer liefen.
Später erfuhren wir, dass es Pía irgendwie gelungen war, der Oberin die Medaille mit der Schwalbe vom Hals zu reißen. Wir können sie nirgendwo finden. Sanchia und ich besuchen sie jeden Tag. Sie drückt ihr Gesicht an das Gitter und flüstert heiser, dass sie eine religiöse Einsiedlerin sei und für uns alle bete. Die Schwestern im Hospital berichten, Pía liege ununterbrochen auf den Knien und wolle nichts essen, nur ein wenig Wasser trinken. In diesem Kloster tragen die Nonnen keinen Dornengürtel – er wird als maßlos abgelehnt. Dennoch ist es Pía irgendwie gelungen, sich einen solchen Gürtel zu beschaffen, und nun trägt sie ihn um die Taille geschlungen unter ihrem Hemd, das inzwischen blutbefleckt ist. Pía beharrt darauf, dass ihr, wenn sie den Gürtel trägt, Engel erscheinen, die wie Zarita aussehen. Zu anderen Zeiten, so sagt sie, kommen Dämonen in ihre Zelle und quälen sie. Sie schreit ihre Gebete heraus und hat die Schwestern gebissen, die sie versorgen.
In unserem Kummer über Pía hatte ich Salomé ganz vergessen. Eine Dienerin kam
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