Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
langsam, dann schneller, bis er nach unten wegsackte, als das Flugzeug abhob, eine Kurve flog und dann steil nach oben stieg. Menina sah zu, wie unter ihr die abendlichen Lichter von Atlanta immer kleiner wurden, und hatte das Gefühl, alles Bekannte und Vertraute hinter sich zu lassen. Nach einiger Zeit schob eine Stewardess einen Getränkewagen durch den Gang. »Möchten Sie etwas trinken?«
Menina brachte ein knappes Lächeln zustande und sagte: »Eine Cola, bitte. Nein, warten Sie … vielleicht … Bourbon. Einen großen.« Virgil trank Bourbon. Wenn Sarah-Lynn nicht hinsah.
»Einen großen Bourbon, selbstverständlich. Mit Wasser?«
»Wie bitte? Oh. Ja, mit Wasser. Danke.« Die Stewardess lächelte, ließ ein paar Eiswürfel in ein Glas klirren, leerte zwei Miniaturflaschen darüber aus und fügte etwas Wasser aus einer großen Flasche hinzu. Dann reichte sie Menina das Glas und eine Handvoll weiterer Bourbonfläschchen und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Sie gehören wahrscheinlich zu der Gruppe mit dem Junggesellinnenabschied. Wie ich schon zu den anderen Damen gesagt habe: Sie können genauso gut jetzt schon mit dem Feiern anfangen.« Menina hatte die Miniaturen schon ablehnen wollen, doch nun nahm sie sie und rang sich ein Lächeln ab. »Danke. Woher wussten Sie das?«
»Spanien ist bei Jungesellinnen echt beliebt, wissen Sie – Sehenswürdigkeiten, tolle Bars, tolle Geschäfte.« Die Stewardess grinste. »Und sehr weit weg von allen, die vielleicht nicht unbedingt wissen sollten, was man so treibt. Na, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß.« Damit wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Dame am Gang zu, die jedoch abwinkte.
Menina starrte in ihr Glas. Sie hatte vielleicht ein Dutzend Gläser Wein in ihrem Leben getrunken und machte sich eigentlich nichts aus Alkohol, doch der Geruch des Bourbon erinnerte sie an ihren Vater. Sie nahm einen großen Schluck und hätte ihn fast sofort wieder ausgespuckt. Der widerwärtige Geschmack erschien ihr irgendwie passend. Menina goss zwei weitere Fläschchen auf die schmelzenden Eiswürfel und leerte das Glas entschlossen in einem Zug. Kurz darauf trank sie noch ein Fläschchen.
Als das Abendessen gereicht wurde, schüttelte sie den Kopf. Es ging ihr besser – und gleichzeitig schlechter. Alles schien verschwommen und undeutlich. Wahrscheinlich war sie betrunken. Bei den letzten beiden Fläschchen machte sie sich gar nicht die Mühe, den Inhalt ins Glas zu schütten, sondern trank den Bourbon direkt aus der Flasche. Inzwischen war ihr alles egal. Sie schmeckte überhaupt nichts mehr. Becky hatte recht gehabt, das hier war eine gute Idee, dachte Menina und wurde ohnmächtig.
Als sie zu sich kam, wusste sie nicht, wo sie war. So elend hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Sonnenlicht strömte durch das Kabinenfenster und Menina kniff die Augen zusammen, während sie sich mit einem wachsenden Gefühl des Entsetzens allmählich erinnerte, was am Abend zuvor passiert war. Über das Lautsprechersystem war die Stimme des Piloten zu hören: Sie warteten darauf, auf dem Flughafen von Malaga landen zu können. » Malaga? Fliegen wir nicht nach Madrid?«, fragte Menina die Frau am anderen Ende der Sitzreihe krächzend.
Die Frau schrieb gerade etwas; auf Meninas Frage sah sie auf und warf ihr über den Rand ihrer Nickelbrille hinweg einen seltsamen Blick zu. Sie war etwa Mitte fünfzig, eine eindrucksvolle Erscheinung mit einer auffallenden grauen Strähne in ihrem schwarzen Haar. Obwohl sie die Nacht im Flugzeug sitzend zugebracht hatte, sah sie in ihrem schwarzen Kaschmirpullover und ihrem schlichten Rock elegant aus. Dazu trug sie modernen Silberschmuck und Armreifen. Menina erkannte zu ihrem Entsetzen, dass dies die Reiseleiterin war. Sie hatte ihr Foto auf dem Begleitschreiben gesehen, das sie zusammen mit den Tickets bekommen hatte. Professor Serafina Lennox, Professorin und Autorin, die Expertin für spanische Kunst – und damit vermutlich der einzige Mensch auf der Welt, der etwas über Tristán Mendoza wissen könnte. Ihr sackte das Herz in die Hose. »Sie sind Professor Lennox, nicht wahr?«, fragte sie matt.
Die Frau hob die Augenbrauen, als fragte sie sich, was um alles in der Welt Menina auf dieser Reise zu suchen hatte. Dann holte sie eine Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie Menina. »Ja. Es ist immer schön, die Studenten und Studentinnen kennenzulernen. Habe ich Sie schon mal in einem meiner Seminare gesehen? Sie sind …?«
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