Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Feld, auf dem Wildblumen im Wind wogten.
Menina schlug ihren Reiseführer auf. Das Wort »Andalusien«, so hieß es da, stammte vom arabischen »Al Andalus« und Reste der maurischen Zivilisation, die zwischen 711 und 1492 auf der iberischen Halbinsel ihre Blütezeit erlebte, waren immer noch überall zu finden. »Bei näherem Hinsehen entdecken Sie die Spuren der Mauren – Terrassenfelder, Brunnen und Gewölbebögen, Orangen- und Mandelbäume und sogar Kirchen, in denen manches an die Moscheen erinnert, die sie einst waren. Die moderne Straße folgt einem uralten Weg, der die Berge mit der Küste verbindet. Man kann immer noch die weißen Steine sehen, die ihn markieren, und die Bewohner der Bergdörfer benutzen ihn auch heute noch. Archäologen haben Tonscherben gefunden, die mit der purpurnen Farbe aus Tyros gefärbt, und halb eingesunkene Altäre, die der phönizischen Göttin As tarte geweiht waren. Es liegt daher nahe, dass die Phönizier von der Küste aus in die Berge vorgedrungen waren, bevor die Römer den Mittelmeerraum kolonialisierten. Dieser Weg aus vorrömischer Zeit setzt sich in östlicher Richtung fort und führt in die Berge, vermutlich bis nach Frankreich.«
Der Reiseführer machte den Leser auf die »weißen Dörfer« aufmerksam, die an den Berghängen zu kleben schienen. Sie stammten aus der Zeit der Mauren. Selbst viele hundert Jahre später lebten alte Gebräuche, Legenden und mancher Aberglaube in ihnen fort.
Für Menina hatte diese Geschichte etwas Beruhigendes, die Tatsache, dass sich die Zeit weiterdrehte, dass das Leben weiterging, war tröstlich. Vielleicht würde es auch für sie irgendwann weitergehen.
Sie las weiter. Die Feierlichkeiten der Semana Santa , die auch heute noch in vielen Dörfern begangen wurden, lockten seit Hunderten von Jahren Reisende und Pilger nach Andalusien. Sie waren religiöser Brauch, Fiesta und großes Drama zugleich und sollten dem gemeinen Volk den Sieg der Christen über die Mauren verkünden. Bei den meisten Prozessionen waren Festwagen beteiligt, zum Teil Jahrhunderte alt, die Figuren des gekreuzigten Christus, der Jungfrau Maria oder Heiliger zeigten. Bisweilen waren auf den Festwagen auch Reliquien von Heiligen in juwelenbesetzten Behältnissen – Knochenstücke, getrocknetes Blut oder vertrocknete Körperteile, denen oftmals Zauberkräfte nachgesagt wurden. Alle beteiligten sich an der Prozession: Priester, Akolythen und örtliche Würdenträger mit ihren Medaillen und Auszeichnungen gingen an der Spitze des Zuges, gefolgt von religiösen Bruderschaften, die man confraternidas nannte, Nonnen und Laien und meist auch eine Gruppe auserwählter Kinder. Die Umzüge fanden für gewöhnlich nachts statt, sie führten durch Straßen, die von Fackeln erleuchtet waren, und alle Teilnehmer trugen Kerzen. Danach dauerten die Fiestas bis zum Morgengrauen, es gab Wein und besondere Speisen, es wurde gesungen und getanzt und die Menschen trugen traditionelle Trachten. Von nah und fern kamen Zigeuner angereist, die Marktstände aufbauten und nebenher Pferde verkauften. Ihre einzigartigen Gesänge, in denen sie den Tod Christi und das Leid seiner trauernden Mutter beklagten, stellten eine weitere jahrhundertealte Tradition dar, die bis in die Zeit der Reconquista zurückreichten.
Wurde die Semana Santa auch zu Tristán Mendozas Lebzeiten auf diese Weise gefeiert? Menina ließ das Buch sinken, um darüber nachzudenken. Dabei sah sie aus dem Fenster und beobachtete einen Raubvogel, der am Himmel über dem Tal dahinglitt. Elegant zog er seine Kreise, ihm zuzusehen, hatte eine hypnotische Wirkung und Menina schlief ein.
Eine Stunde später erwachte sie mit einem Ruck, als der Bus anhielt. Zuerst dachte sie, sie seien an der Haltestelle angekommen, an der sie in den Bus nach Madrid umsteigen sollte, doch der Busfahrer drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. Sie schob ihr Fenster auf und lehnte sich hinaus. Sie hielten an einem Platz vor einer weiß getünchten Kirche. Auf dem Platz drängten sich Menschen, viele von ihnen trugen andalusische Trachten – Frauen mit gerüschten Röcken und hohen, kunstvoll verzierten Kämmen im Haar und Männer in kurzen, mit Litzen besetzten Jacken. Manche von ihnen waren hoch zu Ross. Im Vergleich dazu sahen die Touristen schmucklos aus. Sie hielten Fotoapparate in der Hand und schlenderten langsam über einen Markt in der Mitte des Platzes, wo dunkelhäutige Männer und Frauen wetteiferten, um ihnen Teppiche und Spitze
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