Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
wie Menina in aller Öffentlichkeit als aufreizende Schlampe bezeichnet würde, würde es ihr das Herz brechen. Virgil würde mit seinem Gewehr auf Theo losgehen und wegen Mordes auf dem elektrischen Stuhl enden. Sarah-Lynn würde ihren Mann verlieren und die Leute würden einander zuraunen, dass Menina eine ganz üble Kreatur sei und die Walkers ruiniert hätte, und das, nach allem, was sie für sie getan hatten.
Nein, sie konnte es niemals jemandem erzählen – der Polizei nicht, ihren Eltern nicht, nicht einmal Becky. Ein Aufruhr aus Gefühlen und Zweifeln ließ ihren Kopf schwirren. Kurzentschlossen griff sie sich eine Schere und zerschnitt alles, was sie am Abend zuvor getragen hatte, in winzigkleine Stücke, die sie in ihrem Badezimmer die Toilette hinunterspülte. Dann stand sie schluchzend unter der Dusche und schrubbte ihren ganzen Körper immer und immer wieder unter dem dampfend heißen Wasserstrahl, bis das Wasser kalt wurde. Benommen zog sie sich an und ging ins Esszimmer, um ihren Eltern gegenüberzutreten.
Die Walkers saßen am Frühstückstisch und lasen die Sonntagszeitung, bevor es Zeit war, zur Kirche zu gehen. Virgil meinte: »Wirst du krank, Schätzchen? Du siehst gar nicht gut aus.«
Am liebsten hätte Menina die Wahrheit herausgeschrien, doch sie riss sich zusammen und beschränkte sich darauf, mit zitternden Händen ein Stück Toast zu zerkrümeln. An ihrer Linken fehlte der Verlobungsring. »Theo und ich haben Schluss gemacht.«
Am Frühstückstisch herrschte bestürztes Schweigen.
»Schluss gemacht! Wie könnt ihr denn Schluss machen?«, jammerte Sarah-Lynn entgeistert, während Virgil Menina den Arm um die Schultern legte.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Das Einzige, was Menina stammelnd hervorbrachte, war, dass Theo nicht verstünde, was ihr wichtig sei. Dann verstummte sie. Unter dem Tisch zerriss sie eine Papierserviette in kleine Fetzen.
»Ich verstehe es immer noch nicht!«, sagte Sarah-Lynn ungläubig.
»Mama, bitte …«, krächzte Menina heiser.
»Was werden bloß die Leute sagen?«
Menina hatte nicht gedacht, dass sie noch Tränen übrig hätte, doch nun liefen sie ihr wieder über die Wangen. Virgil nahm sie noch fester in den Arm und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. »Komm, trink einen Schluck«, sagte er.
Das Telefon läutete und Virgil ging an den Apparat. Seine Lippen formten lautlos das Wort »Theo«, während er die Sprechmuschel mit der Hand zuhielt. Menina begann zu zittern und der Kaffee in ihrer Hand schwappte auf den Tisch. Sie schüttelte den Kopf und floh in ihr Zimmer. Weder wollte sie mit Theo am Telefon reden noch wollte sie ihn sehen, als Virgil später an ihre Zimmertür klopfte und sagte, er stünde mit bekümmerter Miene an der Haustür.
»Schick ihn weg, Daddy! Bitte!«
Kurz darauf kam Virgil in Meninas Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. »Willst du deiner Mutter und mir erzählen, was los ist? Das sieht dir so gar nicht ähnlich.«
»Ich will ihn nicht sehen. Nie wieder.«
Virgil sah sie verschmitzt an. »Bist du schwanger? Schätzchen, das ist nicht das Ende der Welt. Was macht das schon, wenn euer Baby weniger als neun Monate nach der Hochzeit auf die Welt kommt. Wir wollten immer schon Großeltern sein, wenn ’ s ein bisschen früher ist, ist uns das nur recht.«
Menina starrte ihn entsetzt an. Schwanger? Auf diesen furchtbaren Gedanken war sie noch gar nicht gekommen. War das etwa Theos Absicht gewesen? Sie zu schwängern?
»Nein!«, rief Menina, kreuzte heimlich Mittel- und Zeigefinger und betete, dass das stimmte.
»Ich versuche mal, deine Mutter zu beruhigen«, sagte Virgil kurz darauf.
Theo rief immer wieder an, doch Menina weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Pauline Bonner rief Sarah-Lynn an, in der Hoffnung, in einem Gespräch von Mutter zu Mutter zu erfahren, was los war. Sie hatte mitbekommen, dass die beiden sich gestritten hatten, doch mehr war von Theo nicht zu erfahren. Sie hoffte, »die Kinder« würden die ganze Sache bald aus der Welt schaffen.
Durch ihre Mutter erfuhr Becky, dass bei den Walkers etwas nicht stimmte, und so schwänzte sie ihre Montagsvorlesung und kam nach Laurel Run. Menina lag auf dem Bett in ihrem abgedunkelten Zimmer – mitten am Tag waren die Vorhänge zugezogen. Becky watete durch eine Flut aus gebrauchten Papiertaschentüchern zum Bett. »Menina?«
»Geh weg, ich schlafe«, hörte sie Menina mit heiserer Stimme sagen, so als hätte sie stundenlang ununterbrochen geweint.
Becky
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