Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Nonnen müssen hinter dem locutio sein. Deshalb gibt Gitterstäbe, wie Gefängnis, um Nonnen und die Welt getrennt zu halten. Ist lange her. Heute schreiben wir nicht mehr, aber wir sitzen hier und arbeiten. Nicht zu viele Fenster kaputt. Und Kamin ist gut, schön groß, weil Schreiberin nicht arbeiten kann, wenn zu kalt. Schreiberin ist guter Job, finde ich!« Sor Teresa stieß ein unerwartetes Lachen aus.
»Ich habe das Portrait eines Mädchens gefunden. Sie sieht nicht wie eine Nonne aus. Wie kann es sein, dass ihr Portrait hier im Kloster ist?«
»Ein Mädchen?« Wieder lachte Sor Teresa leise. »Natürlich ist Mädchen! Viele Mädchen kamen nach Las Golondrinas vor langer Zeit. Heute wissen Leute nicht mehr, aber es war eine Zeit, als viele Mädchen kamen. Wir helfen ihnen, retten ihnen manchmal das Leben«, murmelte sie und ging voran durch den Korridor. »Die Welt ist ein gefährlicher Ort für Mädchen, wenn sie allein sind. Aber das ist eine lange Geschichte. Alles in Las Golondrinas ist eine lange Geschichte. Und alt. Zu alt. Bald sind alle unsere Geschichten vergessen, über die Nonnen, über unseren Orden, über die Mädchen. Wenn nicht ein Wunder kommt, niemand wird wissen, was hier passiert ist. Sie sind das letzte Mädchen, denke ich. Ha! Vielleicht können Sie unsere Geschichten erzählen, nein?«
»Vielleicht können Sie mir die alten Geschichten erzählen und ich versuche es«, sagte Menina, in der Hoffnung, Sor Teresa zu besänftigen. Was mochten das wohl für Geschichten sein, fragte sie sich.
KAPITEL 6
Madrid, Winter 1504
Der Haushalt der Familie des Defensor del Santo Sepulchro trug Trauer. In der Mitte der großen Empfangshalle stand eine aufwendig geschmückte Totenbahre, mit schwarzem und goldenem Stoff behangen und von dicken Bienenwachskerzen umgeben. Darauf lag der Körper einer etwa dreißigjährigen Frau. Ihr wächsernes Gesicht verschwand fast unter einem Schleier aus Brüsseler Spitze. Um ihre Finger war ein Rosenkranz aus großen schwarzen Perlen mit einem Kruzifix aus Gold und Diamanten gewunden. Eine Woche nach ihrem totgeborenen Sohn war die Gräfin gestorben und sein winziger Sarg mit einem Lamm auf dem Deckel lag an ihrer Seite. Die Leichen waren seit fast drei Tagen aufgebahrt, umgeben von der Familie und einem Heer von Nonnen, Mönchen und Priestern, die ununterbrochen Totenwache hielten und für die Seelen der Verstorbenen beteten. Am nächsten Tag sollte eine Prozession zur Totenmesse in die Kirche des Heiligen Nicol á s de los Servitas ziehen. Danach würde die Beerdigung in der Familiengruft stattfinden.
Die einzige Tochter der Familie, die fünfzehnjährige Isabela, kniete allein auf einer Seite der Totenbahre, ihr Vater, ihre sechs Brüder und der Priester auf der anderen. Auch wenn ihre Kleidung von Wohlstand und ihre Haltung von Frömmigkeit zeugten, so war es vor allem ihr Gesicht, das sie interessant erscheinen ließ. Es war eher anziehend als schön, intelligent und wach, mit regelmäßigen Gesichtszügen und dunkelblauen Augen unter dichten Brauen. Im flackernden Licht der Kerzen verschmolz Isabelas schwarzes Trauerkleid mit dem Dunkel der Schatten, sodass ihr blasses Gesicht und der steife weiße Rüschenkragen umso deutlicher hervortraten. Ihre Perlenohrringe leuchteten sanft im Kerzenschein, ebenso wie ihr dunkelgoldenes Haar unter dem Spitzenschleier, der ihren gesenkten Kopf bedeckte. Von Zeit zu Zeit hob sie rasch die Augen und sah, dass der Priester sie genau beobachtete. Schnell senkte sie den Blick auf ihre gefalteten Hände, während Herz und Kopf rasten.
Sie wusste, dass ihr Vater und der Priester um eine Entscheidung rangen, was mit ihr geschehen sollte. Ihre Familie war alt und ihr Stammbaum hatte sogar noch mehr Gewicht als die riesige Mitgift, die sie einem Kloster oder einem Ehemann einbringen würde. Isabela trug la limpieza de sangre in sich, die Reinheit des Blutes, sie gehörte einer rein katholischen Familie an, die die Jahrhunderte maurischer Herrschaft in Spanien unbefleckt von Mischehen mit Mauren oder spanischen Juden überdauert hatte. Seit der Reconquista hatten Cristianos Viejos , Alte Christen wie die Familie des Grafen, noch an Wohlstand und Bedeutung gewonnen. Ihr Name bedeutete »Verteidiger des Heiligen Grabes«. Jahrhundertelang hatte die Familie unter den Augen der maurischen Herrscher Geld für die Befreiung Jerusalems von den Ungläubigen abgezweigt. Als Ihre Katholischen Majestäten Isabel und Fernando schworen, Spanien
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