Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
erinnerte. Sie streckte eine Hand aus und spürte einen Luftzug, dann einen Türrahmen. Sie tastete sich an einer Wand entlang, bis sie über etwas Unförmiges stolperte. »Oh, Mist, was ist das jetzt?«, murmelte sie und rieb sich das Schienbein. Mittlerweile hatten sich ihre Augen soweit an das dämmrige Licht gewöhnt, dass sie eine große dunkle Form erkennen konnte. Sie fuhr mit der Hand darüber. Das Ding fühlte sich wie eine Truhe mit eisernen Beschlägen an. Menina tastete sich an der Kante entlang und bahnte sich einen Weg in den Raum. Unter den Dachvorsprüngen, wo die Schwalben ihren üblichen Lärm machten, drang Licht herein und sie konnte erkennen, dass sie sich in einem weiteren Raum mit niedriger Decke befand. Es roch nach Holzfeuern und ein eiserner Kerzenleuchter mit blassen, halb heruntergebrannten Kerzen ließ sie vermuten, dass die Nonnen diesen Raum tatsächlich benutzten. Sie blickte suchend über den Tisch, in der Hoffnung, Streichhölzer zu finden.
Sie entdeckte einen kleinen eisernen Behälter, der Streichhölzer enthielt, zündete zwei Kerzen an und sah sich um. Im Flackerlicht erkannte sie Stühle mit hohen Lehnen, einen Tisch und ein großes schwarzes Kruzifix über einem offenen Kamin. Der geflieste Boden war uneben und an manchen Stellen eingesunken. Eine Wand des Raumes bestand aus einem Eisengitter, wie bei einer Gefängniszelle. Auf der anderen Seite war ein Vorhang vor das Gitter gezogen. An einer Wand waren Regale befestigt, auf denen einige Körbe mit Nähzeug standen, ansonsten waren sie leer. In einer Nische war Feuerholz gestapelt.
Und an den übrigen Wänden hingen Bilderrahmen. Die Gemälde darin waren schwarz vor Alter und sie waren noch viel schmutziger als die im Zimmer des Waisenhauses.
Menina nahm eine Kerze aus dem Kerzenhalter und hielt sie dicht an das Bild, das ihr am nächsten hing. Mit der Nase wenige Zentimeter von der Oberfläche entfernt kniff sie die Augen zusammen und versuchte, durch die matte Spiegelung der Kerzenflamme hindurch etwas zu erkennen. Nach und nach konnte sie unter den Schichten des Alters und des Schmutzes die schwachen Umrisse eines Gesichts ausmachen.
Sie hatte ein Portrait gefunden. Und jetzt?
Das Brot in ihrer Tasche – das war ’ s. Sie hatte gehört, dass man Gemälde mit Brot reinigen konnte, weil es den Schmutz aufnahm. Es war keine besonders gute Methode und modernes Brot enthielt viele chemische Stoffe und Bleichmittel, die jede Menge Schaden anrichten würden. Doch das Brot in Meninas Tasche war kein amerikanisches Supermarktbrot, es war grau, also war es vielleicht ungebleicht. Sollte sie es versuchen? Wahrscheinlich nicht, doch diese Gemälde hatte seit Jahren niemand mehr beachtet, und wenn sie nichts unternahm, würde das auch so bleiben. Sie wusch sich die Hände im Weihwasser, dann wischte sie sie an ihrer Hose ab und versuchte, sie so sauber wie möglich zu bekommen. Sie riss ein Stück von der Brotkrume ab und knetete es, bis es weich und formbar war. Dann pustete sie über die Oberfläche des Bildes, um den losen Staub zu entfernen und drückte das weiche Brot vorsichtig in eine Ecke der dunklen Leinwand.
Das Brot wurde immer schwärzer, je mehr Schmutz es aufnahm. Der Bilderrahmen sah aus, als sei er vergoldet.
»Okay, dann wollen wir mal sehen, wie du aussiehst.« Mit einem weiteren Stück Brot machte sich Menina daran, das Gesicht freizulegen. Sie drückte es vorsichtig an und nach und nach kamen dichte Augenbrauen über dunklen Augen und der Nasenrücken zum Vorschein, dann ein Gesicht, das sie mit seinen dunklen Augen anstarrte. Menina arbeitete sich von einer Seite zur anderen vor und stellte fest, dass der Künstler es geschafft hatte, Augen zu malen, die dem Betrachter zu folgen schienen. Auf jeden Fall lohnte es die Mühe, den Rest des Portraits freizulegen.
Unter der Schmutzschicht, so erkannte Menina bald, war keine Heilige oder die Jungfrau Maria verborgen, sondern eine junge Frau in eleganten Kleidern. Sie konnte einen fein gearbeiteten Ärmel erahnen, einen Farbfleck, der zu einer Blume in ihrer Hand gehörte, eine Art Unterkleid mit Stickereien und Schmuck. Und obwohl der Schmutz ihre Leuchtkraft dämpfte, waren die Farben kräftig genug, um sie zu erkennen – rot und schwarz und grün und blau. Offenbar war es das Portrait einer wohlhabenden jungen Frau und dennoch war etwas Exotisches oder Primitives daran. Menina bezweifelte, dass es ursprünglich aus Europa stammte.
»Woher kommst du?«,
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