Das Zeichen der Vier
die reicher ist als Sie. Ist das nicht wundervoll?«
Vermutlich war mein Entzücken etwas gar zu dick aufgetragen, so daß meine Beglückwünschungen etwas hohl klangen, denn ich bemerkte, daß ihre Brauen sich ein wenig hoben und sie mich mit forschendem Blick ansah.
»Wenn das mir gehört, verdanke ich es Ihnen«, sagte sie.
»Nein, nein«, entgegnete ich, »nicht mir, sondern meinem Freund Sherlock Holmes. Es wäre mir beim besten Willen nicht möglich gewesen, eine Spur zu Ende zu verfolgen, die sogar seinem analytischen Genie einige Rätsel aufgegeben hat. Und selbst dann haben wir sie kurz vor dem Ziel noch beinahe aus den Augen verloren.«
»Setzen Sie sich doch bitte, und erzählen Sir mir alles, Dr. Watson«, sagte sie.
Ich berichtete kurz, was sich seit unserer letzten Begegnung ereignet hatte; von Holmes’ neuer Suchmethode, der Entdeckung der
Aurora,
dem Erscheinen von Athelney Jones, unserem abendlichen Unternehmen und der wilden Jagd die Themse hinunter. Sie lauschte dem Bericht von unseren Abenteuern mit leicht geöffneten Lippen und leuchtenden Augen. Als ich jedoch auf den Pfeil zu sprechen kam, der uns so knapp verfehlt hatte, wurde sie so blaß, daß ich fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen.
»Es ist nicht der Rede wert«, sagte sie, als ich mich eilte, ihr ein wenig Wasser einzugießen. »Es geht schon wieder. Doch es hat mir einen Schock versetzt zu hören, daß ich meine Freunde in so entsetzliche Gefahr gebracht habe.«
»Das alles ist ja nun vorbei«, beschwichtigte ich sie. »Es war nicht halb so schlimm. Aber genug der düsteren Einzelheiten; wenden wir uns etwas Erfreulicherem zu. Da steht der Schatz; was könnte erfreulicher sein? Ich habe die Erlaubnis erwirkt, ihn hierherzubringen, in der Annahme, daß es Sie interessieren würde, ihn als erste zu sehen.«
»Es ist von größtem Interesse für mich«, erwiderte sie, wobei ihre Stimme kein bißchen erwartungsvoll klang. Doch war ihr wohl eingefallen, daß man es ihr als Undankbarkeit auslegen könnte, wenn sie einer Beute, die unter so großen Anstrengungen errungen worden war, gleichgültig gegenüberstand.
»Was für eine hübsche Truhe«, sagte sie und beugte sich darüber. »Das wird wohl indisches Kunsthandwerk sein?«
»Ja, es ist Schmiedekunst aus Benares.«
»Und wie schwer sie ist!« rief sie aus, als sie sie hochzuheben versuchte. »Schon die Truhe allein muß etwelchen Wert haben. Wo ist denn der Schlüssel?«
»Small hat ihn in die Themse geworfen«, antwortete ich. »Ich muß mir Mrs. Forresters Schürhaken ausleihen.«
Auf der Vorderseite der Truhe befand sich eine kräftige, breite Haspe in Form eines sitzenden Buddhas. Darunter setzte ich das eine Ende des Schürhakens an und drückte diesen dann, wie einen Hebel, nach außen. Mit einem lauten Schnappen sprang die Haspe auf. Mit bebenden Fingern klappte ich den Deckel zurück. Da standen wir beide und trauten unseren Augen nicht. Die Truhe war leer!
Dennoch war es nicht verwunderlich, daß sie so schwer war. Die Schmiedearbeit war allenthalben zwei Drittel Zoll dick. Es war eine massive, gut gearbeitete, solide Truhe, die aussah, als sei sie eigens zu dem Zwecke verfertigt worden, kostbare Dinge zu transportieren. Aber nicht das kleinste Stäubchen Edelmetall oder Schmuck lag darin. Sie war absolut und vollständig leer.
»Der Schatz ist verloren«, sagte Miss Morstan ruhig.
Als ich diese Worte hörte und allmählich begriff, was sie bedeuteten, schien es mir, als wiche ein dunkler Schatten von meiner Seele. Mir war nicht bewußt gewesen, wie sehr die Last dieses Agra-Schatzes mich niedergedrückt hatte, bis jetzt, da ich endlich davon befreit war. Gewiß, das war selbstsüchtig, illoyal, verwerflich, und doch empfand ich nur eines: daß die goldene Schranke zwischen uns nun gefallen war.
»Gott sei Dank!« stieß ich aus tiefstem Herzensgrund hervor.
Sie blickte mich mit einem raschen, fragenden Lächeln an.
»Weshalb sagen Sie das?« verlangte sie zu wissen.
»Weil Sie nun wieder erreichbar sind für mich«, erwiderte ich und nahm ihre Hand. Sie entzog sie mir nicht. »Weil ich Sie liebe, Mary, so innig, wie nur je ein Mann eine Frau geliebt hat. Weil dieser Schatz, all dieser Reichtum mir bis anhin die Lippen versiegelt hat. Nun aber, da er entschwunden ist, kann ich Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe. Deshalb habe ich ›Gott sei Dank‹ gesagt.«
»Dann will auch ich ›Gott sei Dank‹ sagen«, flüsterte sie, als ich sie an mich zog.
Wer
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