Das Zeichen Des Dunklen Gottes
Öffnung. »Hier. Iss es. Mir ist ein ganzer Vogel ohnehin zu viel.« Sie zögerte noch ein wenig. Stoiko schwenkte das Hühnerbein vor ihrer Nase hin und her, bis sie endlich zulangte. Gierig verbiss sie sich in dem gebratenen Fleisch und strahlte den Gefangenen glücklich an.
»Danke«, sagte sie kauend. »Das ist sehr gütig von Eurer Herrschaft.«
»Spar dir die Worte. Ich bin keine Herrschaft, kein Hochwohlgeboren, gar nichts. Nur jemand, der etwas Glück in allem Unglück hatte.« Er kostete von den Speisen und befand sie als gut. »Und du bist bestimmt die Tochter einer Wache oder des Kerkermeisters?«
»Nein«, sagte sie undeutlich. In kürzester Zeit hatte sie die Gabe bis auf die Knochen abgenagt. »Ich bin dazu verurteilt worden, hier zu arbeiten. Weil ich etwas gestohlen habe.« Stoikos Augenbrauen wanderten nach oben.
»Entschuldigt bitte«, rief sein Schachpartner aus seiner Zelle, »aber ich darbe fürchterlich. Wäre jemand so gütig und brächte mir mein Essen, bevor es kalt wird oder die Ratten es fressen? Vielen Dank.« Die anderen lachten.
Das Mädchen bekam einen roten Kopf. Schnell klappte sie die Luke zu und beeilte sich, die Rationen auszuteilen, während die anderen Insassen ihre Wortspäße mit ihr trieben.
Stoiko beobachtete sie durch die Gitterstäbe seiner Sichtöffnung.
Sie humpelte ein wenig, machte einen verwahrlosten Eindruck und wirkte leicht verängstigt, misstrauisch, scheinbar immer auf der Hut vor der schnappenden Hand eines Gefangenen. Wie ein geprügelter Hund. Sein Mitleid und Interesse an dem Schicksal des Mädchens waren geweckt.
Sie packte das leere Geschirr auf einen äußerst instabil wirkenden, voll beladenen Schiebkarren und zerrte ihn unter großer Anstrengung zur Tür hinaus.
»Einen Moment, junge Dame«, rief er hinterher. »Wie heißt du?«
Das Mädchen schaute ihn an und schien zu überlegen, ob sie es wagen konnte, dem Fremden ihren Namen zu nennen.
»Soscha«, sagte sie scheu und war mit ihrer Last nach draußen verschwunden.
In den folgenden Wochen entstand eine Freundschaft zwischen Stoiko und Soscha. Das Mädchen fasste Vertrauen zu dem freundlichen Mann, der schnell herausfand, dass hinter der dreckigen Stirn ein heller, wacher Verstand steckte.
Wann immer Soscha Gelegenheit hatte, stattete sie dem einstigen Vertrauten des Kabcar einen Besuch ab und erzählte ihm von den Entwicklungen im Land.
Stoiko revanchierte sich, indem er dem Mädchen Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte, wobei sie sich erstaunlich gut anstellte. Die angeborene Neugier half ihr dabei, und auch kleinere Rückschläge entmutigten das Kind nicht, wenn die Ungeduld mitunter zu groß wurde. Als Geschenk bekam sie von ihm Federkiele, Papier und ein Tintenfass, damit sie überall üben konnte.
Auch die anderen Insassen fanden Gefallen an Soscha und brachten ihr, wenn auch gegen den immer wieder laut geäußerten Unmut Stoikos, ihre Unarten und Tricks bei.
Die verschiedenen Grundlagen des Falschspielens wurden ihr demonstriert. Eine Handbewegung da, eine versteckte Karte dort und immer aufmerksam sein, plaudernd ablenken und dabei den Austausch von Karten, Würfeln oder allen anderen Utensilien vorzunehmen, darauf kam es an.
Von den anderen fünf lernte sie in der Theorie, wie man Unterschriften fälscht, Wachsabdrücke herstellt oder Wasserzeichen nachträglich in Dokumente einbringt.
Den Weisheiten des Charmeurs und des streitlustigen Adligen lauschte sie zwar, aber richtig anwenden würde sie diese Künste nicht können. Zum Töten war sie noch zu klein, für das andere sowieso.
Aber sie hörte mit Begeisterung zu, wenn die Männer wortgewandt und gestenreich ihre Erlebnisse und Eskapaden schilderten. Nach und nach lernte sie so, wie man sich gut und gewählt ausdrückte.
Nur »der Schweigsame« blieb beharrlich still. Er beteiligte sich nicht an der umfangreichen, mitunter recht zweifelhaften Ausbildung Soschas, sondern blieb im Hintergrund, kümmerte sich nicht um das Geschehen im »Nobeltrakt«, als wollte er einfach nur in Ruhe gelassen werden.
Irgendwann fiel Stoiko auf, dass er eines bisher vergessen hatte.
Als sich das Mädchen wieder zu seiner Zelle schlich, um bei Kerzenschein Lese und Schreibübungen zu absolvieren, beschloss er, am Ende der Lektion nachzufragen.
»Du hast mir noch nicht ausführlich erzählt, weshalb du im Kerker arbeiten musst«, begann er vorsichtig. »Was kann denn ein Kind schon stehlen, dass es eine solche Strafe erhält?«
Soschas
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