Das Zeit-Tippen
sie einen Pelzmantel, einen feschen Hut à la „Lustige Witwe“, hochgeknöpfte Stiefeletten und ein schwarzes, mit weißer Seide abgesetztes Samtkostüm. Sie sah hinreißend und trotz ihrer Aufmachung sehr jung aus.
„Wirf es weg“, sagte Stephen herrisch. „Sofort!“
Esme nahm das Kästchen aus Zedernholz, das Poppa enthielt, an die Brust, als wollte sie es wegwerfen, dann stellte sie es wieder langsam auf die Reling. „Ich kann es nicht.“
„Soll ich es tun?“
„Ich sehe nicht ein, warum ich ihn wegwerfen muß.“
„Weil wir zusammen ein neues Leben beginnen.“
In diesem Augenblick rief jemand etwas, und eine Glocke läutete wie aus der Ferne dreimal.
„Sollte ein anderes Schiff in der Nähe sein?“ fragte Esme.
„Esme, wirf das Kästchen weg!“ schnauzte Stephen, und dann erblickte er ihn. Er riß Esme von der Reling zurück. Ein Eisberg, hoch wie das Vorderdeck, scharrte die Schiffsflanke entlang; es schien fast so, als wäre der bläuliche glitzernde Eisberg ein anderes vorbeifahrendes Schiff, als bewegte sich eher das Eis als das Schiff. Eisbrocken prasselten auf das Deck, schlitterten über das lackierte Holz, und dann entschwand der Eisberg in der Dunkelheit hinter dem Heck. Er mußte wenigstens dreißig Meter hoch gewesen sein.
„O mein Gott!“ schrie Esme und stürzte zur Reling.
„Was ist denn?“
„Poppa! Ich habe ihn fallen lassen, als du mich von dem Eisberg zurückgerissen hast.“
„Jetzt ist es zu spät…“
Esme verschwand in der Menge und weinte um Poppa.
Es war bitter kalt, und das Oberdeck wimmelte von Leuten, die alle herumrannten, schrien, auf die Rettungsboote kletterten, und unvermeidlich schrien diejenigen, die im letzten Augenblick ihren Entschluß, mit dem Schiff unterzugehen, geändert hatten, am lautesten, bemühten sich am energischsten, Aufnahme in den Rettungsbooten zu finden, von denen noch kein einziges zu Wasser gelassen worden war. Es gab sechzehn Rettungsboote aus Holz und vier Segeltuch-Engelhards, vier Faltboote. Aber sie konnten nicht zu Wasser gelassen werden, solange die Davits nicht von den zwei vorderen Booten geräumt worden waren. „Wir teilen Ihnen mit, wann Sie an Bord gehen können“, rief ein Offizier den Familien zu, die sich um ihn drängten.
Inzwischen hatte das Schiff Schlagseite. Esme verspätete sich, und Stephen wollte nicht warten. Bei dieser Geschwindigkeit würde der Bug im Nu ins Wasser tauchen.
Sie muß bei Michael sein, dachte er. Der kleine Bastard hat sie zum Sterben überredet.
Michael hatte eine Luxuskabine auf dem C-Deck. Stephen klopfte, rief Michael und Esme, versuchte die Tür zu öffnen und trat schließlich das Schloß ein.
Michael saß auf einer Pullman-Koje. Seine Schwester lag tot neben ihm.
„Wo ist Esme?“ sagte Stephen, vom Anblick Michaels abgestoßen, der so gelassen dasaß.
„Offensichtlich nicht hier.“ Michael grinste und verzog sein gummilippiges Gesicht.
„Mein Gott“, sagte Stephen, „zieh deinen Mantel an und komm mit!“
Michael lachte und strich sich über das Haar. „Ich bin schon tot, fast wie meine Schwester. Auch ich habe eine Pille genommen, sehen Sie?“ Er hielt ein braunes Fläschchen in die Höhe. „Sie würden mich sowieso nicht in ein Rettungsboot lassen. Ich habe mich für keins angemeldet, erinnern Sie sich?“
„Du bist ein Kind…“
„Ich dachte, Poppa hätte Ihnen das alles erklärt.“ Michael legte sich neben seine Schwester und beobachtete Stephen wie ein junger Hund mit seltsam verdrehtem Kopf.
„Du weißt, wo Esme ist. Sag es mir jetzt.“
„Ich habe sie nie verstanden. Sie ist zum Sterben hierhergekommen.“
Einen Augenblick später hörte Michael zu atmen auf.
Stephen suchte das Schiff von Deck zu Deck ab, brach in Partys ein, auf denen sich diejenigen, die sich für den Tod entschieden hatten, zum letzten Mal austobten, schaute in die Foyers, in denen viele alte Ehepaare saßen und auf das Ende warteten. Er bahnte sich den Weg zum F-Deck hinunter, wo er Esme im Türkischen Bad geliebt hatte. Das Wasser stand ihm bis zu den Knien; es war grün und seifig. Er hatte Angst, denn die Schlagseite wurde von Minute zu Minute stärker. Das Wasser stieg weiter, während er hindurchwatete.
Er mußte die Treppen erreichen, hinauf und hinaus zu einem Rettungsboot, vom Schiff hinweggelangen, aber er konnte nicht umhin, weiter nach Esme zu suchen. Er mußte sie finden. Vielleicht ist sie schon auf dem Oberdeck, dachte er, während er durch
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