Das Zeit-Tippen
fortzuschwimmen, aber es war schon zu spät. Er spürte, wie er zurückgesogen und hinabgezogen wurde. Er wurde zu dem Lüftungsschacht gesogen, der sich vor dem vorderen Schornstein befand; er schnappte nach Luft, schluckte Wasser und fühlte das Drahtnetz, das Lüftungsschachtgitter, das verhinderte, daß er hinabgesogen wurde. Verzweifelt hielt er den Atem an.
Rings um ihn herum strudelte das Wasser, und es erfolgte noch eine Explosion. Stephen spürte Wärme im Rücken, als ein heißer Luftstrom ihn nach oben blies. Dann brach er in die eisige Luft hervor. Er schwamm um sein Leben, fort von dem Schiff, fort von dem Klirren und Krachen von Glas und Holz, fort von den Trümmern von Deckstühlen und Planken, von Taufetzen und fort vor allem von den anderen Leuten, die stöhnten, ihn um Hilfe riefen und versuchten, sich an ihn wie an eine Boje zu klammern, versuchten, ihn in die Tiefe zu ziehen, als das große Schiff sank.
Beim Schwimmen hörte er Stimmen und erblickte eine dunkle Silhouette. Einen Augenblick wußte er nicht, was es war, dann erkannte er, daß er sich in der Nähe eines gekenterten Rettungsbootes befand, nämlich des Faltbootes, das, wie er beobachtet hatte, ins Wasser gestoßen worden war. Fast dreißig Männer und Frauen standen darauf. Stephen versuchte, an Bord zu klettern, und jemand rief: „Du bringst uns zum Sinken, wir sind schon zu viele.“ Eine Frau versuchte, Stephen einen Schlag mit einem Ruder zu versetzen, und verfehlte nur knapp seinen Kopf. Stephen schwamm auf die andere Seite des Bootes. Er klammerte sich nochmals daran, faßte jemanden beim Fuß und wurde mit einem Tritt ins Wasser zurückbefördert.
„Komm“, sagte ein Mann, „pack meinen Arm, und ziehe dich herauf.“
„Hier ist kein Platz mehr“, sagte jemand anders.
„Hier ist noch Platz für einen mehr.“
„Nein.“
Das Boot begann zu schwanken.
„Wir werden alle im Wasser landen, wenn wir nicht damit aufhören“, rief der Mann, der Stephen über Wasser hielt. Dann zog er Stephen an Bord.
Stephen stellte sich zu den anderen; dafür war wirklich kaum Platz. Alle bildeten nun eine Zweierreihe, das Gesicht zum Bug, und lehnten sich gegen den Wellengang. Langsam trieb das Boot von der Stelle fort, an der das Schiff untergegangen war, fort von den Leuten im Wasser, die alle um ihre Leben flehten, um eine letzte Chance. Während Stephen dorthin zurückblickte, wo das Schiff einst gewesen war, dachte er an Esme. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie tot war und durch die Gänge des Schiffes trieb.
Diejenigen im Wasser waren deutlich zu hören; ja, ihre Rufe schienen verstärkt zu sein, als sollten sie von jedem klar gehört werden, der in Sicherheit war, um ihn für seine vergangenen Sünden zu strafen.
„Wir sind alle Todeskandidaten“, sagte eine Frau, die neben Stephen stand. „Ich bin sicher, daß niemand vor der Morgendämmerung erscheint, um uns zu retten, denn erst dann müssen sie die Überlebenden auffischen.“
„Uns werden sie als letzte auffischen, wenn sie das überhaupt vorhaben.“
„Diejenigen im Wasser kommen auf ihre Kosten. Und da wir uns für den Tod entschieden haben…“
„Das habe ich nicht“, sagte Stephen beinahe zu sich selbst.
„Na, dann kriegst du ihn eben umsonst.“
Stephen war steif, aber es war ihm nicht mehr kalt. Wie aus weiter Ferne hörte er das Aufklatschen von jemandem, der vom Boot fiel, das ganz langsam sank, weil die Luft seinem Rumpf entwich. Manchmal stand das Wasser Stephen bis an die Knie, trotzdem bibberte er nicht. Die Zeit dehnte sich aus und zog sich zusammen. Er maß sie an dem Aufklatschen seiner Gefährten und Gefährtinnen, die über Bord fielen. Er hörte sich selbst Esme rufen, als wollte er ihr Lebwohl sagen oder sie vielleicht grüßen.
Im Morgengrauen benebelte Stephen die Kälte so, daß er glaubte, an Land zu sein, denn auf dem Meer trieb lauter Strandgut… Kork, Deckstühle, Kisten, Wandpfeiler, Matten, Holzschnitzereien, Kleidungsstücke und natürlich die Leichen der Unseligen, die nicht hatten überleben können oder wollen… und die großen Eisberge oder kleineren Eisschollen sahen wie Klippen oder Hügelflanken aus. Sie glitzerten alle bunt im Licht, als hätte sie irgendein trübsinniger Gaugin aus dem Norden gemalt.
„Da!“ sagte jemand, eine heisere Frauenstimme. „Es kommt herunter, es kommt herunter!“ Das lenkbare Luftschiff, das wie ein riesiger weißer Wal aussah, schien eher durch sein natürlicheres
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