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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Dann
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Landschaften und Seestücke; Mantle mochte hochgelegene Dörfer wie Eze und Mons besonders gern. Da er häufig die alte Esterei-Straße entlangreiste, stellten viele seiner Bilder den roten Porphyr des Esterei-Massivs und die tiefen zerklüfteten Buchten der Calanques dar. Auf den ersten Blick wirkten manche seiner Bilder verschwommen, beinahe rauchig, aber während man auf die milchigen Leinwände in schweren Rahmen starrte, schienen sich Formen abzuzeichnen; sie gewannen an Deutlichkeit und Farbe, als oktroyierte der Betrachter ihnen irgendwie seine eigene Vorstellungskraft auf. Dann wirkte das Bild einen Augenblick lang so klar und scharf wie alte Fotografien.
    Mantle beobachtete, wie Pfeiffer das Zimmer inspizierte. Der zu kurz geratene, untersetzte, sommersprossige Pfeiffer mit weit auseinanderstehenden Augen und hohen Backenknochen. Wie lange kennen wir uns schon? Es müssen zwanzig Jahre sein. So viel Haß und Liebe, vergeudet wie in einer schlechten Ehe. Jetzt stand das alte Schweigen wieder zwischen ihnen und all den Mauern der Vergangenheit. Obwohl er die Schranken durchbrechen und zu Pfeiffer gelangen, die Wärme früherer Zeiten entfachen (und Pfeiffer dessen Erinnerungen an Josiane wie Zähne ziehen) wollte, fühlte er sich abgestoßen von diesem Fremden. Wie gelähmt blieb Mantle stumm, schaute zu und wartete.
    „Dies hier ist sehr gut“, sagte Pfeiffer, während er ein großes Phantasiebild eines toten Vogels im Wald betrachtete. Es hing in der Mitte der hinteren schmalen Wohnzimmer wand. Das Bild beherrschte den Raum; man bemerkte nicht einmal den geblümten Lehnstuhl darunter.
    Mantle lachte leise.
    „Was ist denn so komisch?“ fragte Pfeiffer, blickte sich um und wandte sich dann wieder dem Bild zu. „Ich halte es für eine sehr gute Arbeit, obwohl das Sujet ein wenig beklemmend ist.“
    „Ich weiß, daß es eine sehr gute Arbeit ist“, sagte Mantle. Er durchquerte das Zimmer und nutzte seinen Vorteil aus. „Darüber habe ich freilich nicht gelacht.“
    „Worüber denn…?“
    „Ich habe über dich gelacht, alter Freund.“ Pfeiffer warf ihm, wie erwartet, einen finsteren Blick zu. „Ich habe das Bild seinerzeit für dich gemalt“, fuhr Mantle fort. „Du kannst es mitnehmen, wenn du willst.“
    „Also, vielen Dank, aber ich weiß nicht so recht.“ Pfeiffer senkte die Stimme. „Warum hast du gelacht?“
    „Weil ich es für dich gemacht habe, und du hast, wie vorhergesehen, angebissen. Ohne zu zögern, hast du den »Toten Vogel« aufgespürt.“
    „Na und?“
    „Ich werde es dir zeigen“, sagte Mantle. Er stand vor dem Bild; es hing in Augenhöhe. „Sieh dir den Himmel an. Was siehst du, wo die dunkle, faustförmige Wolke auf die hellere stößt?“
    „Ich sehe zwei Wolken, was sollte ich sonst sehen?“
    „Tritt ein Stück zurück und starre das Bild nicht so an, als wolltest du ein Loch hineinbrennen“, sagte Mantle. „Du siehst die dunkle Wolke als Figur und die weiße als Hintergrund, weil da noch viel mehr weiße Fläche ist. Das ist ein Trick. Versuche die weiße Fläche als Gestalt zu sehen und die dunklere als Hintergrund. Was siehst du jetzt? Streng dich nicht zu sehr an, sie wird in den Brennpunkt rücken.“
    „Ich glaube, ich erkenne Buchstaben“, sagte Pfeiffer.
    „Und was kannst du entziffern?“
    Pfeiffer schüttelte den Kopf; es war eher ein Zucken. „M-O-R-T. Mort. Wieso, das ist doch das französische Wort für Tod. Steckt das wirklich dahinter?“
    „Ja“, sagte Mantle. „Es gehört zu einem Mosaik, mort zu benutzen – was Tod und tot bedeutet. Wenn du genauer hinsiehst, kannst du auch das Wort death da drüben erkennen – das englische Wort für Tod…“ Mantle zeigte auf eine schattierte Fläche am Himmel.
    „Warum hast du so etwas gemalt?“ fragte Pfeiffer.
    „Es sind unterbewußte Verankerungen. Die sind dir sicher vertraut…“
    „Natürlich“, erwiderte Pfeiffer mit etwas zu lauter Stimme. „Aber warum benutzt zu Tod oder mort oder was auch immer – außer, um morbid zu sein?“
    „Es sind unterbewußte Auslöser. Deine größte Angst ist immer der Tod gewesen, erinnerst du dich noch? Früher hast du dauernd davon geredet.“ Einen Pulsschlag lang wartete Mantle. „Tritt ein Stück zurück, und sieh in den Wald, dorthin in die linke Ecke, wo das Gewürm ist. Was siehst du da?“
    „Nichts.“
    „Sieh weg vom Bild“, sagte Mantle. „Sieh jetzt wieder hin.“
    „Da sehe ich doch Carolines Gesicht. Das ist ein richtiger

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