Das Zeit-Tippen
wirklichen Bilder sind unter denen versteckt, die du siehst“, sagte Mantle. „Es sind gewissermaßen Modelle meines Gedächtnisses. Dies da…“ – er ging an Pfeiffer vorbei ins Wohnzimmer und zeigte auf ein großes Bild in einem einfachen Metallrahmen – „… sieht wie der Cours Mirabeau aus. Siehst du die Fontänen und die Platanen und den dunstigen Himmel? Das wirkliche Bild verbirgt sich aber hinter dieser ganzen Idylle. Schau es dir lange genug an, dann wirst du eine Hängende Stadt sehen, und die Fontänen und Bäume werden verschwinden. Und schließlich zeichnen sich, wenn es mir geglückt ist, beide ab. So arbeitet das Gedächtnis. Man betrachtet das Meer, und plötzlich erblickt man eine Stadt, in der man früher gelebt hat, oder eine Frau, die man gekannt hat.“
„Es sind also Porträts deiner Vergangenheit“, sagte Pfeiffer erleichtert.
„Zur Übung“, fuhr Mantle fort, „habe ich manchmal »Porträts« für Freunde wie dich gemalt. Von Leuten, die ich nie treffen werde, ja, die tot oder wahrscheinlich tot sind.“
„Warum befaßt du dich dann mit ihnen?“
„Alles hilft mir vielleicht, mich zu erinnern“, sagte Mantle. „Sogar dein Anblick.“ Wenn ich mich nur erinnern könnte, möge es auch noch so schlimm sein, fände ich vielleicht Ruhe.
„Aber du weißt doch, was Josiane zugestoßen ist. Sie ist in den ,Großen Schrei‘ geraten. Entweder ist sie tot oder eine ,Schreierin‘. Das macht keinen Unterschied.“
„Und du bist und bleibst ein Hurensohn.“
Pfeiffer sah bestürzt aus, aber Mantle erkannte, daß dies nur geheuchelt war. „Mein Gott“, sagte Pfeiffer. „Man muß den Dingen ins Gesicht sehen.“
„Ich weiß, daß es geschah, aber ich weiß nicht, wie es geschah und was eigentlich geschah. Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann es nicht vor mir sehen…“ Einen Augenblick dachte Mantle, daß Pfeiffer frohlockte. Ja, er hatte es gesehen. Nun ja, er hatte es gestanden, war wieder in seinen alten Fehler verfallen. Es ist meine eigene Schuld, sagte er sich. Aber wie sehr mußte Pfeiffer sich dieses Geständnis herbeigewünscht haben.
„Kannst du dich nicht einmal an den »Großen Schrei« erinnern?“ fragte Pfeiffer. „Du warst doch dabei.“
„Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. Was ich weiß, ist mir erzählt worden, aber ich habe es nicht erlebt. Ich kann mich nicht einmal an Josiane erinnern. Sie ist ein Hologramm auf meinem Schreibtisch. Du Hurensohn, hilf mir!“
„Es ist wie mit der Spinne und der Fliege“, sagte Pfeiffer, um das Thema zu wechseln, als hätte er das bisherige satt.
„Was?“ fragte Mantle.
„Sympathetische Magie. Es ist so, als glaubtest du, du könntest mit einem Malerpinsel uns aus deiner Vergangenheit herausbringen.“
„Vielleicht hätte ich meine Pinsel auswaschen sollen“, sagte Mantle und raffte sich wieder zusammen.
„Du wolltest also tatsächlich nicht, daß ich komme…“
Mantle ging im Wohnzimmer hin und her, als suchte er Trost bei seinen Bildern, dann setzte er sich auf den Diwan. Er mußte Pfeiffer loswerden. Pfeiffer setzte sich neben ihn. „Dort ist auch ein Bild für Caroline.“
„Welches denn?“ fragte Pfeiffer ehrlich überrascht.
„Oh, das mußt du herausfinden.“
„Sag es mir“, sagte Pfeiffer mit einem Anflug der Besorgnis. Aber Mantle schüttelte den Kopf.
„Wie geht es Caroline?“ fragte Mantle. „Macht sie immer noch diese wahnwitzigen Verjüngungskuren?“
„Ich habe Caroline seit fünf Monaten nicht mehr gesehen“, sagte Pfeiffer mit abgewandtem Gesicht. „Wir sind übereingekommen, daß eine kurze Trennung das beste wäre, für meine Arbeit und…“
„Das heißt also, daß sie dich verlassen hat.“
Caroline hatte also endlich den Mut gefunden, sich von ihm zu trennen, dachte Mantle und erinnerte sich an früher. Seit Caroline neunzehn war, hatte sie versucht, Carl zu verlassen, aber Carl fand es notwendig, sich um seine zarte Blume zu kümmern, um seine kleine Solipsistin, wie er sie nannte, damit sie sich nicht wieder nach innen kehrte und den Kontakt mit der Welt verlor – mit der wahren Welt von Pfeiffers Büchern und Pfeiffers Karriere und Pfeiffers Träumen: Pfeiffer, der irrsinnige Schlafwandler, der Mann ohne Unbewußtes. Hatte er ihr nicht zu ihrer Karriere als Romanautorin verholfen, hatte er nicht all ihre Werke korrigiert und kritisiert, hatte er nicht ihre Geschichten umgeschrieben, hatte er nicht größtenteils für Einkommen und Ruhm gesorgt –
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