Das Zeit-Tippen
war. Semaphore blinkten regelmäßig auf, um vorbeifahrende Schiffe vor der Küste zu warnen. Wolken wallten um den Mond, hier und da flackerten Schatten, ein gespenstischer Nebel breitete sich aus; die Ruine sah wie eine natürliche Felsformation aus: so echt wie die Ungeheuer aus Porphyr, die den Golf von Frejus, die Klippen des Cap Roux oder den in Dunst gehüllten Mont Vinaigre bewachten. Wind und Brandung bildeten eine weiße Geräuschkulisse, die irgendwie die Vorstellung erweckte, daß an diesem Ort Stille herrschte und nur Geister und Dämonen und Götter herumflatterten. Ein idealer Ort für ein Orakel. Hier träumte die Natur selbst.
Mindestens zweihundert Leute, meistens Frauen, hatten sich in der Ruine und um sie herum versammelt. Sie standen so still, daß man sie im Nebelschleier für Felsen hätte halten können. Nur die Kinder rannten herum.
Pretre hatte Mantle bei Roberta gelassen, die sie am Wachtturm empfangen hatte. Sie war eine grobknochige Frau, die gedrungen und zugleich unbeholfen wirkte. Sie hatte ein zu langes und doch apartes Pferdegesicht, irgendwie in der Art von Josiane: die gleiche schmale Adlernase, strenge Züge, ein dünnlippiges Lächeln, den gleichen Teint und Kraushaar. Sie könnte meine Schwester sein, dachte Mantle verärgert, als hätte Pretre ihn absichtlich mit diesem plumpen Konterfei seiner verschollenen Frau konfrontiert. (Aber Mantle konnte sich nicht an Josiane erinnern. In seinem geistigen Auge war sie nur ein Foto. Alles, was er tun konnte, war, Roberta mit diesem Foto zu vergleichen.)
„Die Zeremonie wird dort drüben stattfinden“, sagte Roberta und zeigte westwärts auf etwas, das wie Dolmen am Rande eines Olivenhains aussah.
„Warum stellen alle wie Statuen da?“
„Sie beten und errichten eine Brücke von dieser Welt zu den finsteren Gefilden.“
Mantle runzelte die Stirn und fragte: „Und warum sind so viele Frauen darunter?“
Roberta drückte seine Hand und fragte: „Haben Sie etwas gegen Frauen?“ Gegen seinen Willen mußte Mantle lächeln.
„Frauen sind nicht so eingleisig wie Männer“, sagte sie. „Im Gegensatz zu den meisten Männern bewahren wir noch etwas Sprachvermögen in unserer rechten Gehirnhälfte. Sie arbeiten für Fex; Sie sollten das also wissen. Warum sind wohl die meisten Nouveaux Oracles Frauen – wie von alters her? Nur aus praktischen Gründen, das versichere ich Ihnen. Frauen sind auffassungsfähiger.“ Sie hatte einen leichten Akzent und eine honigsüße Stimme, besänftigend wie die Brandung und die vorbeigleitenden Schatten.
Zusammen gingen sie zu den Dolmen, und Mantle hatte das beunruhigende Gefühl, daß jemand – oder etwas – ihn beobachtete.
„Ich weiß, daß Sie uns alle für verrückt halten“, fuhr sie fort, „aber Sie sollten versuchen, sich in die richtige Gemütsverfassung zu versetzen, wenn Sie wollen, daß es funktioniert. Sie müssen sich gehenlassen, nehmen Sie alles, was geschieht, in sich auf, schalten Sie sich aus…“
„Das kann ich nicht“, sagte Mantle brüsk und war selbst überrascht, daß ihm diese Worte entschlüpft waren. Aber die Unruhe in ihm wuchs, dieses Gefühl, von steinharten Dämonen und Teufeln beobachtet zu werden, die ihn irgendwo in der Nacht einfangen würden, als befände er sich in einem weitläufigen Labyrinth. „Ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich kann mich dessen nicht erwehren.“
„Lassen Sie sich dann doch beobachten“, sagte sie. „Hier gibt es eben Schreier, einige noch am Leben, andere schon tot, die zwischen unserer Welt und den finsteren Gefilden hin und her schweben. Ihre Anwesenheit kann tröstlich sein, wenn Sie ihren Gedanken folgen. Darauf kommt es denen, die um uns herum sind, an. Nur die Schreier können Visionen ohne jeglichen Steckkontakt hervorrufen…“
Mantle erschauderte bei der Vorstellung so vieler Schreier, und etwas öffnete sich in ihm. Er erinnerte sich. Er versetzte sich nach New York zurück. Er erinnerte sich, daß er gegen den Massengeist kämpfte. Daß er von Schreien und Gedanken, die so scharf waren wie Kristallsplitter, zerrissen wurde. Die Menge war telepathisch, ein vielköpfiges Tier, das ihn zu verschlingen versuchte.
„Kommen Sie“, sagte sie und zog Mantles Arm um ihre Taille, was Ellen auch oft tat. „Sie haben böse Gedanken, das fühle ich.“ Sie lächelte, um es abzuschwächen, und sagte: „Lassen Sie die Schreier Ihre Gedanken lenken; dann sind Sie sicherer, und ich bleibe bei Ihnen, sogar im
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