Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Zweifellos nehmen wir eine übertriebene Betonung des Tiefenaspekts in Klimts flächigen Gemälden wahr sowie die übertriebene Farbgebung in den von Kokoschka porträtierten Gesichtern und dem von Schiele gemalten (eigenen) Körper. Darüber hinaus offenbaren Kokoschka und Schiele ein intuitives Gespür für den Verstärkungseffekt von Schlüsselreizen, indem sie die strukturellen Aspekte von Gesichtern betonen. Wie wir in Kapitel 9 gesehen haben, bemerkte Kokoschka die vermutlich kaum sichtbare Erschlaffung von Auguste Forels rechter Gesichtshälfte und das leichte Herabhängen seiner rechten Hand und fügte diese Details in sein Porträt des Mannes ein. Wer das Porträt sah, erkannte darin umgehend die Anzeichen eines Schlaganfalls.
Unsere ästhetische Reaktion auf Kunst beruht mit Sicherheit nicht nur auf der Entdeckung von Übertreibungen. Tinbergens Möwenküken und Ramachandrans Ratten reagieren heftig auf übernormale Darbietungen, doch gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass diese Tiere ein ästhetisches Empfinden besitzen. Um die emotionalen Reaktionen von Menschen hervorzurufen, sind höchstwahrscheinlich andere Prozesse vonnöten.
Die Erkenntnis, dass wir bei der Gesichtserkennung sowohl auf das Gesicht als Ganzes als auch auf ungewöhnliche Merkmale des Gesichts achten, hat die Idee aufgebracht, dass die Reaktionen des Gehirns auf Gesichter davon abhängen, wie sehr sie vom Durchschnitt abweichen. Gillian Rhodes und Linda Jeffery haben die interessante Hypothese aufgestellt, dass wir ein Gesicht identifizieren, indem wir es mit einem Prototyp des menschlichen Gesichts vergleichen und dann beurteilen, wie weit es sich davon unterscheidet. Sind beispielsweise die Augenbrauen im Vergleich zu den Augenbrauen der meisten anderen Leute besonders buschig? Ist ein Auge kleiner als das andere?
So wie Hubel und Wiesel entdeckt haben, dass Zellen in der primären Hirnrinde Bilder in Liniensegmente und Konturen zerlegen, haben also Freiwald und Tsao herausgefunden, dass jeder der sechs Gesichts-Flecken im Temporallappen auf eine besondere Aufgabe bei der Gesichtserkennung spezialisiert ist. Einige Gesichts-Flecken erkennen ein Gesicht von vorne, andere im Profil, wieder andere berechnen, inwiefern sich das betreffende Gesicht vom Durchschnittsgesicht unterscheidet, und dann gibt es noch Gesichts-Flecken mit einer Verbindung zu Hirnarealen, die für das Zusammenspiel der Emotionen bedeutsam sind. Freiwald und Tsao erfassten unmittelbar die Relevanz ihrer außerordentlichen Erkenntnisse für die Entdeckung der Gestalttheoretiker, wie wir komplexe Formen wahrnehmen.
BEI DER GESICHTSWAHRNEHMUNG WERDEN wir mehr als bei jeder anderen Hirnfunktion Zeuge des Gestaltprinzips, dass das Gehirn eine Kreativitätsmaschine ist. Es erschafft die Wirklichkeit nach seinen eigenen biologischen Regeln neu, welche großenteils das Sehsystem diktiert. Dass wir auf die figurativen und emotionalen Aspekte von Gesichtern in der Kunst intensiv reagieren, liegt teilweise daran, dass die Gesichtswahrnehmung so zentral für das soziale Miteinander, für Gefühle und Erinnerungen ist. Tatsächlich beansprucht die Gesichtswahrnehmung im Menschengehirn mehr Raum als jede andere figurative Repräsentation.
Im Hinblick auf die Bedeutung der Gesichtserkennung für die soziale Entscheidungsfindung stellten Freiwald und Tsao zwei Fragen: Entdecken Gesichts-Flecken in einem wahrgenommenen Gesicht Informationen über Gefühle? Wenn ja, leiten sie diese Informationen an andere Hirnregionen (außer der Amygdala) weiter, die für Entscheidungsfindung und Gefühle zuständig sind? Mit diesen Möglichkeiten im Hinterkopf untersuchten sie den präfrontalen Cortex von Affen mit bildgebenden Verfahren und entdeckten dort drei Gesichts-Flecken, die auf Gefühlsäußerungen reagieren.
Ein weiterer von ihnen aufgespürter Gesichts-Fleck steht in Zusammenhang mit dem Arbeitsgedächtnis, einer Form des Kurzzeitgedächtnisses, die uns ermöglicht, Informationen, etwa das Bild eines Gesichts, für einige Sekunden zu speichern. Die Neuronen in diesem Gesichts-Fleck sind mit dem Hippocampus verbunden, dem tief im Temporallappen liegenden Bereich, der für die Überführung des Arbeitsgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis zuständig ist. Tsao und Freiwald vermuteten daher eine Beziehung dieses Gesichts-Flecks zu der Verarbeitung von Gesichtern, sofern diese mit dem Arbeitsgedächtnis, der Aufmerksamkeit, der Kategorisierung und der sozialen Intelligenz zu tun
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