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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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reagieren, keine Reaktion, wenn diese Merkmale außerhalb des Ovals präsentiert werden, das das Gesicht darstellt (Abb. 17-5). Entsprechend reagieren diese Gesichtserkennungszellen nur auf das ganze Gesicht eines anderen Affen, aber nicht, wenn Augen oder Nase allein im Oval stehen (Abb. 17-6).

    Abb. 17-5.
Verschiedene Hirnareale, sogenannte »Gesichts-Flecken« (face patches) , in denen bei Menschen und nichtmenschlichen Primaten Gesichter erkannt werden.
    Als Nächstes untersuchten Freiwald und Tsao verschiedene Gesichtsparameter, wie den Augenabstand, die Größe der Iris und die Breite der Nase, und machten die erstaunliche Entdeckung, dass die Zellen in den beiden mittleren Gesichts-Flecken eindeutig Karikaturen bevorzugen. Sie reagieren verstärkt auf Übertreibungen und Extreme – den größten oder kleinsten Augenabstand, die größte oder kleinste Iris. Dieses Ergebnis war selbst dann zu beobachten, als man die Gesichtsmerkmale unnatürlich verzerrte. So reagieren die Zellen sehr stark, wenn die Augen so groß wie Untertassen sind oder extrem weit außen stehen oder wenn sie zu einem einzigen Zyklopenauge zusammenrücken. Als man das gezeichnete Gesicht schließlich auf den Kopf stellte, löste es, wie erwartet, weniger starke Reaktionen aus als in normaler Position. Die Entdeckung, dass Zellen in den mittleren Gesichts-Flecken bevorzugt auf extreme Gesichtsmerkmale, insbesondere Merkmale der Augen, reagieren, liefert möglicherweise eine Erklärung dafür, warum Karikaturen, die einzelne Teile eines Gesichts übertrieben darstellen, eine so starke Wirkung haben. Und die Entdeckung, dass diese Zellen nicht auf das gezeichnete Gesicht reagieren, wenn es auf dem Kopf steht, erklärt vielleicht auch, warum wir auf dem Kopf stehende Gesichter schlechter erkennen.
    145 Exploratorium, »Mona: Exploratorium Exhibit«, http://www.exploratorium.edu/exhibits/mona/mona.html (aufgerufen am 14. September 2011).
    146 Johnson, M. H. und J. Morton, Biology and Cognitive Development: The Case of Face Recognition , Oxford 1991.
    147 Meltzoff, A. N. und M. K. Moore, »Imitation of Facial and Manual Gestures by Human Neonates«, Science 198, 4312 (7. Oktober 1977), S. 75–78.
    148 Pascalis, O., M. de Haan und C. A. Nelson, »Is Face Processing Species-Specific During the First Year of Life?«, Science 296, 5571 (2002), S. 1321–1323.

Abb. 17-6.
Ganzheitliche Gesichtserkennung.
Oben: Aufzeichnungspunkt und Position einer Gesichts-Zelle im Affengehirn.
Unten (a–h): Präsentierte Gesichtsreize und Reaktionen der Gesichts-Zelle.
Die Höhe der Balken zeigt die Feuerrate dieser Zelle und die Eindeutigkeit der Gesichtserkennung in Relation zu dem jeweiligen Reiz an.

BEHAVIORISTEN, DIE KONDITIONIERUNGSEXPERIMENTE durchführten, und Ethologen, die das Verhalten von Tieren in freier Wildbahn erforschten, hatten schon früher herausgefunden, dass Extreme besonders wirksame Reize sind. 1948 entdeckte der niederländisch-britische Verhaltensforscher Niko Tinbergen, der wie sein Kollege Lorenz die Mutter-Kind-Kommunikation untersuchte, wie wichtig Übertreibung aus biologischer Sicht sein kann. Tinbergen stellte fest, dass ein Möwenküken gegen einen auffälligen roten Fleck am gelben Schnabel seiner Mutter pickt, wenn es um Futter bettelt. Das Picken bringt die Mutter dazu, Futter für das Küken hervorzuwürgen. Tinbergen bezeichnete diesen roten Fleck als Schlüsselreiz , weil er bei dem Küken wie ein Signal ein voll ausgeprägtes, koordiniertes, instinktives Verhalten auslöst – das Betteln nach Futter. Danach entwarf er Experimente, um zu prüfen, wie das Küken auf übertriebene Schlüsselreize reagieren würde.
    In einem ersten Schritt zeigte Tinbergen dem Küken nur einen Schnabel, ohne den Körper der Mutter, und das Küken pickte genauso heftig gegen den roten Fleck an dem körperlosen Schnabel wie gegen den Schnabel seiner Mutter. Das ließ vermuten, dass das Kükengehirn eher darauf programmiert ist, von roten Flecken auf gelbem Grund angezogen zu werden als von der ganzen Muttermöwe. Laut dem Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran zeigt dies, dass die Evolution möglicherweise einfache Prozesse bevorzugt und dass das Identifizieren eines roten Flecks auf einem gelben Stock dem Küken weniger komplizierte Berechnungen abverlangt, als in einer anderen Möwe seine Mutter zu erkennen.
    Um dieses Prinzip weiter zu testen, präsentierte Tinbergen dem Küken einen gelben Stock mit einem roten Streifen darauf, also

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