Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
eine vereinfachte Abstraktion ohne Ähnlichkeit mit einem Schnabel, und das Küken pickte wieder heftig dagegen. Daraufhin fragte er sich: Würde die Reaktion des Kükens anders ausfallen, wenn man diesen abstrakten Schnabel modifizierte? Tinbergen zeigte dem Küken also einen übertrieben gestalteten Schnabel – einen gelben Stock mit drei roten Streifen. Dieser Schnabel, der übernormale Schlüsselreiz , rief ein noch heftigeres Picken hervor als der Stock mit dem einzelnen roten Fleck. Dem Küken war dieser »Schnabel« sogar lieber als der seiner Mutter. Wie bei Karikaturen, stilisierten Zeichnungen und anderen Übertreibungen wurde die stärkste Reaktion von einem Reiz ausgelöst, der sich von dem natürlichen Reiz wesentlich unterschied; dieses Phänomen nannte Tinbergen Verstärkungseffekt des Schlüsselreizes . Weil solche Reize so übertrieben sind, erregen sie die Schaltkreise für das Entdecken roter Flecken im Sehsystem des Kükens vermutlich noch intensiver als der Fleck auf dem Schnabel der Mutter.
In einer seiner Reith Lectures für die BBC von 2003 erörtert Vilayanur Ramachandran, inwiefern derartige übertriebene Darbietungen visueller Urformen unser Denken über Kunst beeinflussen könnten. Er behauptet, wahrscheinlich besäßen auch Menschen, genau wie Möwen, eine Veranlagung zu erregenden Reaktionen auf bestimmte visuelle Reize. Immerhin hätte unsere Evolution dazu geführt, dass wir auf menschliche Gesichter reagieren oder in grünem Laub verborgene orangefarbene und rote Früchte entdecken. Laut Ramachandran spielen visuelle Urformen eine bedeutende Rolle in der Kunst, weil Künstler intuitiv wissen, dass die Rezipienten von Kunst intensiv auf bestimmte Gesichter und Farbmuster reagieren. Er behauptet sogar: »Wenn … Möwen eine Kunstgalerie hätten, würden sie diesen langen Stock mit den drei roten Streifen an die Wand hängen, ihm huldigen, Millionen Dollar für ihn bezahlen, ihn einen Picasso nennen.« 149
Abgesehen von angeborenen Reizen wie dem Möwenschnabel kann eine Reizverstärkung auch die Reaktion auf einen erlernten Reiz beeinflussen. So kann ein Versuchsleiter einer Ratte beibringen, Rechtecke von Quadraten zu unterscheiden, indem er sie selektiv belohnt. Wenn einer Ratte das Bild eines Rechtecks gezeigt wird und sie daraufhin einen Hebel drückt, belohnt der Versuchsleiter die Ratte mit einem Stück Käse. Dagegen zeigt die entsprechende Reaktion auf ein Quadrat keine Wirkung. Nach einer Konditionierungsphase ziehen die Ratten nicht nur Rechtecke Quadraten vor, sondern bevorzugen übertrieben lange und dünne Rechtecke gegenüber denen, auf die sie ursprünglich konditioniert wurden. Kurz gesagt lernen die Ratten: Je übernormaler die Rechtecke sind, desto weniger ähneln sie Quadraten. Höchstwahrscheinlich sind Ratten – anders als Möwen mit ihren von Anfang an heftigen Reaktionen auf gelbe Stöcke mit roten Streifen – nicht von Natur aus empfindlich für verschiedene Typen von Vierecken. Doch wenn sie konditioniert wurden, reagierten sie stark auf Übertreibungen. Übersteigerte Reaktionen auf Reize sind daher nicht immer nur angeboren, sondern können auch erlernt werden.
VERMUTLICH SETZEN ZELLEN IN unseren mittleren Gesichts-Flecken starke emotionale Reaktionen auf übertriebene Gesichtsmerkmale frei, weil sie anatomisch mit der Amygdala in Verbindung stehen, derjenigen Hirnstruktur, die entscheidend an der Steuerung von Gefühlen, Stimmungen und sozialer Verstärkung beteiligt ist. Interessanterweise könnte diese Verbindung auf neuronaler Ebene die von Kris und Gombrich vertretene Behauptung stützen, die übertriebene Darstellung von Gesichtern durch Manieristen, Karikaturisten und später durch die Wiener Expressionisten zeige Wirkung, weil das Gehirn spezifisch auf solche Übertreibungen reagiere. Überdies reagieren die meisten Zellen in den mittleren Gesichts-Flecken spezifisch auf eine große Iris, was eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die Augen in allen Darstellungen von Gesichtern eine so wichtige Rolle spielen. Wenn wir uns demnach noch einmal Kokoschkas Doppelporträt von ihm und Alma Mahler ansehen (Abb. 9-16), gibt es nun möglicherweise eine erste biologische Erklärung dafür, warum es uns so sehr berührt – besonders beeindruckend an diesem Bild sind die großen Augen, die schon für sich genommen Kokoschkas und Mahlers Stimmung fast vollkommen widerspiegeln.
Der Verstärkungseffekt betrifft Tiefe und Farbe wie auch die Form.
Weitere Kostenlose Bücher