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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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vermitteln versucht. Kokoschkas Porträts lenken unsere Aufmerksamkeit gezielt auf den Gesichtsausdruck der einzelnen Personen und die Bedeutung dieses Ausdrucks.

    Abb. 18-14.
Oskar Kokoschka, Die Windsbraut (1914).
Öl auf Leinwand.

    Abb. 18-15.
Egon Schiele, Liebesakt (1915).
Bleistift und Gouache auf Papier.
Das Bild ist um 90 Grad nach links gedreht.
    Einen völlig anderen Kontrast offenbaren Kokoschkas und Schieles Selbstporträts mit einer Geliebten (Abb. 18-14 und 18-15). Kokoschka hat mehrere Liebesporträts von sich und Alma Mahler gemalt, doch aus keinem spricht Erfüllung. Immer wirkt Kokoschka passiv, von Mächten mitgerissen, die er nicht beherrschen kann. In Die Windsbraut wird dieser Eindruck noch durch die wilden Wogen verstärkt, die die beiden Liebenden umgeben und denen Kokoschka hilflos ausgeliefert ist. Schiele dagegen widmet sich dem puren Sex im offenen Vollzug. Doch romantische Seligkeit und erotische Freuden dieser sexuellen Vereinigung werden aufgehoben oder sogar ausgelöscht durch Angst. Das Zusammentreffen widerstreitender Triebe zerstört jeden Genuss an der Sexualität. Zurück bleibt Leere – die Leere der Vereinigung –, die aus den Augen der Figuren spricht. In Schieles Porträts ist die mit der Sexualität verbundene Angst so groß und die schiere Gewalt der Gefühle so stark, dass er keinen Sturm, keine Hintergrundeffekte braucht, um sie noch dramatischer zu gestalten.
    Die bei den Künstlern zutage tretenden stilistischen Unterschiede – die uns direkt ins Auge fallen – vermitteln verschiedene emotionale Inhalte. Den biologischen Grundlagen des emotionalen Gehalts von Porträts wenden wir uns im folgenden Kapitel zu.

KAPITEL 19
    DIE DEKONSTRUKTION VON GEFÜHLEN: AUF DER SUCHE NACH EMOTIONALEN URFORMEN
    F ür Ernst Gombrich war die Entwicklung der abendländischen Kunst ein Prozess, der mithilfe immer kunstvollerer Vortäuschungen der Wirklichkeit trotz Umwegen und Rückbesinnungen zu einer zunehmend überzeugenden Imitation der Natur führte. Doch diese Entwicklung geriet ins Stocken, als die Fotografie Einzug hielt, die die visuelle Welt bald beherrschte und zeitlich mit der Erstellung von realistischen Abbildungen der Natur in anatomischen und botanischen Atlanten zusammenfiel.
    Aus diesem Grunde experimentierten die modernen Künstler mehr und mehr mit Ausdrucksmöglichkeiten, die jenseits realistischer Darstellungen der Welt lagen. Wie wir in Kapitel 13 gesehen haben, begannen Paul Cézanne, Pablo Picasso, Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky und andere, auf der Suche nach figurativen Urformen die Dekonstruktion der Form auszuloten. Sie strebten nach neuen Ausdrucksmitteln für die Auseinandersetzung mit Form und Farbe, den visuellen Grundelementen von Landschaften, Objekten und Personen. Ungefähr zur gleichen Zeit begannen Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Edvard Munch und nach ihnen die österreichischen Vertreter der Moderne Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele sowie die deutschen Expressionisten, Gefühle zu dekonstruieren, indem sie nach emotionalen Urformen suchten. Sie versuchten die Elemente zu finden, die starke bewusste und unbewusste emotionale Reaktionen auf Szenen und Menschen, insbesondere auf Gesichter, Hände und Körper, hervorrufen.
    Auf der Suche nach emotionalen Urformen machten sich die Künstler daran, unter die oberflächliche Erscheinung vorzudringen, um Aspekte des Gefühlslebens ihrer Figuren zu erkunden und darzulegen – sowie in einem weiteren Schritt die Gefühle der Betrachter und deren emotionale Reaktion auf die Figuren zu beeinflussen. Die Idee, dass Betrachter auf den Gefühlszustand von abgebildeten Figuren reagieren können, beruht auf der Vorstellung, dass es ein universelles Spektrum von Gefühlen gibt, die alle Menschen empfinden, abrufen und anderen vermitteln können. Diese modernen Künstler experimentierten mit vielfältigen Methoden zur Übermittlung von Gefühlszuständen – Übertreibung der Form, Verfremdung der Farbe und neuen Arten der Ikonografie. Darüber hinaus bauten sie darauf, dass sich die Betrachter an ähnliche emotionale Erfahrungen erinnern, deutliche historische Anspielungen verstehen und die Bedeutung von Symbolen kennen würden.
    Für die emotionale Reaktion auf Kunst ist das Gedächtnis der Betrachter genauso entscheidend wie für ihre perzeptuelle Reaktion. Ähnlich wie wir auf unsere früheren Erfahrungen mit der Wahrnehmung von Gesichtern zurückgreifen müssen, wenn wir ein

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