Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
auszuloten.
Dies sind sehr ausdrucksstarke Bilder. Man kann sogar sagen: Die Werke der österreichischen Moderne haben bei so vielen Menschen Anstoß erregt, weil sie die Emotionen derBetrachteraktiv herausfordern. Wir nehmen den Gefühlszustand einer anderen Person nicht als unabhängig von unserem eigenen Gefühlszustand hin. Vielmehr tauchen wir selbst empathisch in ihn ein. Wenn jemand die verzerrte Körperhaltung eines Selbstporträts von Schiele unbewusst nachahmt, ist er in Schieles private Gefühlswelt eingedrungen, denn der Körper des Betrachters ist die Bühne, auf der sich die von Schiele dargestellten Emotionen offenbaren. Indem Schiele seinen Körper in verzerrten Haltungen porträtiert, um seine Gefühle darzustellen, fordert er auch unser Einfühlungsvermögen heraus. Für sensible Betrachter ist das Anschauen eines Porträts von Schiele oder Kokoschka nicht nur ein Akt der Wahrnehmung, sondern ebenso eine intensive emotionale Erfahrung.
Der bewusste Versuch, die Hässlichkeit von Krankheit und Ungerechtigkeit auf künstlerisch bedeutsame und innovative Weise darzustellen, zeigte sich in Klimts drei Deckengemälden für die Universität, Kokoschkas Skulptur Selbstbildnis (Der Krieger) und in den Porträts, in denen Kokoschka erstmals Kratzer und Daumenabdrücke in der feuchten Farbe hinterließ. Der Wunsch, Schönheit in der Hässlichkeit des Lebens zu entdecken, erreichte seinen Höhepunkt in Schieles Selbstporträts. Kathryn Simpson schreibt dazu: »Diese [von ihnen dargestellten] physischen Details sollten eigentlich idealisiert werden. Sie so zu betonen, wie Kokoschka und Schiele es taten, wurde als gravierender Affront für die Augen empfunden.« 159
EIN LETZTER FAKTOR, DER DIE EMOTIONALE REAKTION auf Kunst beeinflusst, ist die Farbe. Farben spielen im Primatengehirn, genau wie die Repräsentation von Gesicht und Hand, eine ganz besonders wichtige Rolle, und aus diesem Grund werden Farbsignale vom Gehirn anders verarbeitet als Licht und Formen.
Wir schreiben Farben spezifische emotionale Eigenschaften zu und unsere Reaktion auf diese Eigenschaften variiert je nach unserer Stimmung. Im Gegensatz zu gesprochener Sprache, die häufig eine vom Kontext unabhängige emotionale Bedeutung besitzt, kann eine Farbe demzufolge für verschiedene Personen jeweils etwas anderes bedeuten. Im Allgemeinen ziehen wir unvermischte helle Farben gemischten gedämpften Farben vor. Künstler, insbesondere die Maler der Moderne, haben übertriebene Farben verwendet, um emotionale Effekte zu erzielen, doch die Bewertung dieser Emotionen hängt von den Betrachtern und vom Kontext ab. Diese Vieldeutigkeit der Farben trägt möglicherweise dazu bei, dass ein Gemälde bei verschiedenen Personen – und zu verschiedenen Zeiten sogar bei ein und derselben Person – so viele unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Darüber hinaus ermöglicht uns Farbe, Objekte und Muster zu erkennen, indem sie den Figur-Grund-Kontrast verstärkt.
Die Farbe erlebte ihre Blütezeit in der Renaissance. Leonardo da Vinci erkannte, dass es höchstens vier, vielleicht sogar nur drei Primärfarben gibt – rot, gelb und blau – und dass sich durch Mischen dieser Farben die gesamte Farbpalette erzeugen lässt. Damals entdeckten die Künstler auch, dass sie neue Farbempfindungen hervorrufen konnten, indem sie bestimmte Farben einander gegenüberstellten.
Im Jahre 1802 äußerte Thomas Young die Vermutung, dass es in der menschlichen Netzhaut drei Typen farbsensitiver Pigmente gibt. William Marks, William Dobelle und Edward MacNichol von der Johns Hopkins University wiesen 1964 nach, dass Farbe mithilfe von drei Typen von Zapfen wahrgenommen wird. Obwohl die relative Aktivität der drei Zapfentypen die Farben erklärt, die wir bei einem kontrollierten Farbzuordnungsexperiment im Labor wahrnehmen, ist unsere Farbwahrnehmung in der wirklichen Welt sehr viel komplexer. Dort hängt sie, wie wir gesehen haben, großenteils vom Kontext ab.
In den 1820er-Jahren entwickelte der französische Physiker M. E. Chevreul »mathematische Farbregeln«, 160 die ins Gesetz des simultanen Kontrasts mündeten. Dieses Gesetz besagt, dass nebeneinanderliegende leichte Abtönungen derselben Farbe als stark kontrastierend wahrgenommen werden. Mitte des 19. Jahrhunderts erstellte Eugène Delacroix Deckengemälde für das Palais du Luxembourg und wandte bei der Darstellung von Fleisch das Gesetz des simultanen Kontrasts erfolgreich an. Er schuf künstliches Licht,
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