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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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vermuten, dass komplexere Bilder zu kürzeren Fixationszeiten führen als weniger komplexe. So bemerkt der Kognitionspsychologe Robert Solso von der University of Nevada:
    Vielleicht verlangt … komplexe Kunst, die mit Details gespickt ist, dass man einer großen Anzahl visueller Elemente Aufmerksamkeit schenkt. Diesem Anspruch kann man nachkommen, indem man jedem einzelnen Merkmal eine kürzere Fixationszeit widmet. Bei einfachen Figuren, wie sie etwa von vielen modernen Vertretern der abstrakten Kunst geschaffen werden, wetteifern sehr viel weniger Merkmale um Beachtung, und so lässt sich für jedes Merkmal mehr Zeit erübrigen. Man könnte auch behaupten, dass Betrachter von abstrakten Gemälden versuchen, in der begrenzten Zahl von Merkmalen eine »tiefere« Bedeutung zu entdecken, und darum jeweils mehr Zeit für ein Merkmal aufwenden. 158

    Abb. 20-9.
Oskar Kokoschka,
Bildnis der Schauspielerin Hermine Körner (1920).
Farblithografie. The Minneapolis Institute of Arts, Schenkung von Bruce B. Dayton, 1955, S. 12, 360.
    Einige Aspekte von Yarbus’ Erkenntnissen finden sich in Kokoschkas Lithografien wieder (Abb. 20-9). Die Bilder sehen aus, als hätte der Künstler beim Beobachten des Modells seine eigenen Augenbewegungen nachgezeichnet. Auch hier scheint Kokoschka wieder die unbewussten geistigen Prozesse an die Oberfläche seiner Kunst zu holen und sie so dem Bewusstsein erfahrbar zu machen. In diesem Fall geht es um die Mechanismen, mit denen das Auge die physische und menschliche Welt, insbesondere das Gesicht, aktiv erforscht und interpretiert.
    SO WIE EINIGE HIRNREGIONEN SELEKTIV auf Gesichter reagieren, reagieren andere auf Hände und Körper, vor allem Körper, die in Bewegung sind. Die Finger von Kokoschkas Modellen sind häufig zu Fäusten geballt, unnatürlich gebogen oder verzerrt – bei Frauenhänden auch lang und sensibel. Manchmal haben die Hände rote Konturen und Flecken, und die Farbe ist in rauen Schichten aufgetragen, was an die Textur und Farbe von rohem Fleisch erinnert. Am interessantesten ist es jedoch, wenn Kokoschka in der Kommunikation zwischen Personen Hände als symbolischen Ersatz für Gesicht und Augen einsetzt. Das trifft, wie wir gesehen haben, auf die 1909 gemalten Bilder Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat , Kind mit den Händen der Eltern und Spielende Kinder zu (Abb. 20-10, 20-11, 20-12). In seinem Gemälde von den Goldmans bildet Kokoschka nicht einmal die Gesichter der Eltern ab – er stellt die Liebe zu ihrem kleinen Kind einzig über ihre Hände dar.

    Abb. 20-10.
Oskar Kokoschka,
Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat (1909).
Öl auf Leinwand.

    Abb. 20-11.
Oskar Kokoschka,
Kind mit den Händen der Eltern (1909).
Öl auf Leinwand.
    Im Gegensatz zu Kokoschka, dem es allein mit winzigen Krümmungen der Hände und des Körpers gelang, Gefühle zu vermitteln, arbeitete Schiele in seinen Gemälden mit übertriebenen Verzerrungen des gesamten Körpers (siehe Kapitel 10). So greift er in Tod und Mädchen , einer Darstellung seiner komplexen, ambivalenten Gefühle am Ende seiner Beziehung zu Wally, die Themen Liebe und Tod auf (Abb. 10-14). Das Gemälde zeigt Wally und Schiele in den Nachwehen einer sexuellen Begegnung – vermutlich ihrer letzten. Das Bild ist ein Symbol für den Tod ihrer Liebe. Wallys Arm ist teilweise unter Schieles Mantel verborgen; so wirkt ihre Umarmung schwach – als klammere sie sich nur noch mit letzter Kraft an ihn. Die Darstellung dieser übertriebenen Pose gelingt, obwohl Wallys Arm kaum zu sehen ist.

    Abb. 20-12.
Oskar Kokoschka,
Spielende Kinder (1909).
Öl auf Leinwand.
    Untersuchungen mit funktioneller MRT haben gezeigt, dass das Gehirn etwas stärker auf den gesamten Körper als nur auf die Hände reagiert. Dies ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass Schieles Abbildungen des ganzen Körpers, insbesondere wenn er nackt ist, eine intensivere Wirkung haben als Kokoschkas Darstellungen von Händen (Abb. 10-6). Schieles Selbstbildnisse, oft unbekleidet und in entsetzlich verzerrter Haltung, sind der Versuch, in der Darstellung seines Körpers seinen geistigen Zustand und seine exaltierten Stimmungen widerzuspiegeln. Noch stärker als Klimt oder Kokoschka drückt er extreme Gefühle durch seinen Körper, insbesondere durch Kopf, Arme und Hände, aus. Und mehr als die anderen beiden Künstler nutzte Schiele Selbstporträts, um die Spannung zwischen den instinktiven Trieben von Liebe und Tod und dem Empfinden des eigenen Selbst

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