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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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mischen, und da die Tuben wieder verschließbar und gut zu transportieren waren, konnten die Künstler auch draußen malen. Die Pleinair - oder Freilichtmalerei erlaubte es Impressionisten wie Monet, die Flüchtigkeit von Licht, Farbe und Atmosphäre so einzufangen, wie es im Studio niemals möglich gewesen wäre. So öffnete sich die Tür zu neuen, expressiven Verwendungen neuartiger Farben, wie die Werke van Goghs und später auch der Wiener Expressionisten bezeugten.
    Die neuronale Basis der Farbwahrnehmung wurde dann von Torsten Wiesel, David Hubel und Semir Zeki in bahnbrechenden Studien untersucht, die uns weitere Einsichten über die künstlerischen Experimente van Goghs verschafften. Die Untersuchungen haben offenbart, dass unser Gehirn Formen weitgehend über Leuchtdichtewerte (Helligkeit) wahrnimmt, wie wir sie aus Schwarz-Weiß-Aufnahmen kennen. Somit dient Farbe nicht nur zur Abbildung der natürlichen Oberfläche von Objekten, sondern kann auch – wie van Gogh und Künstler nach ihm einprägsam bewiesen haben – eine große Bandbreite an Gefühlen auf neuartige und lebendigere Weisen zum Ausdruck bringen.
    Das Phänomen, dass Farbe unsere Gefühle beeinflussen kann, wird sogar noch durch weitere Eigenschaften des Sehens verstärkt. Besonders wichtig ist dabei, dass wir die Farbe eines Objekts schon 100 Millisekunden vor seiner Form oder Bewegung wahrnehmen. Dieser Zeitunterschied entspricht der Tatsache, dass wir den Ausdruck eines Gesichts wahrnehmen, bevor wir es identifizieren. In beiden Fällen verarbeitet unser Gehirn Aspekte des Bildes, die mit emotionaler Wahrnehmung verknüpft sind, schneller als Aspekte, die mit der Form zusammenhängen. Auf diese Weise wird die Wahrnehmung der Form – des Objekts oder des Gesichts –, der wir uns gegenübersehen, schon vorab emotional gefärbt.
    Zeki ist auf die Bedeutsamkeit dieser Unterschiede in unserer Wahrnehmung von Farbe und Form weiter eingegangen. Wenn wir sagen, dass wir etwas wahrnehmen, meinen wir damit, dass wir uns dieses Ereignisses bewusst sind. Wir nehmen jedoch Farbe im Hirnareal V4 wahr, und zwar früher, als wir Bewegung im Areal V5 oder Gesichter in den Gesichts-Flecken des fusiformen Areals wahrnehmen. Demnach werden wir uns einer Farbe und eines Gesichts zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Hirnbereichen bewusst. Es gibt also, so sagt Zeki, nicht so etwas wie ein einheitliches visuelles Bewusstsein – das visuelle Bewusstsein ist ein verteilter Prozess. Zeki bezeichnet diese Einzelaspekte des Bewusstseins als Mikrobewusstsein . Er schreibt:
    Aus der Tatsache, dass das synthetische, vereinte Bewusstsein das des eigenen Selbst als Quelle aller Wahrnehmungen ist, folgt, dass es im Gegensatz zum empirischen (Mikro-)Bewusstsein nur durch Sprache und Kommunikation zugänglich ist. Anders gesagt: Tiere besitzen ein Bewusstsein, aber nur der Mensch ist sich seines Bewusstseins bewusst. 167
    Schon lange haben Künstler die Trennung von Farbe und Form intuitiv erfasst; oft haben sie Aspekte des einen zugunsten des anderen vernachlässigt. Indem die Impressionisten und Postimpressionisten sorgfältig weiche Umrisse und vage Konturen erzeugten und auch den Wertebereich zwischen Hell und Dunkel stark reduzierten, boten sie den Betrachtern Gelegenheit, die begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen des Gehirns stärker der Wahrnehmung der puren Farbe zu widmen. Diesen Gemälden fehlte zwar die fotografische Prägnanz ihrer mit wissenschaftlicher Genauigkeit arbeitenden Vorgänger, doch ihr explosives Farbenspektrum war von einer noch nie da gewesenen emotionalen Kraft. Dies bereitete die Psyche der Kunstrezipienten im Fin de Siècle auf die facettenreiche Maltradition vor, die die Vertreter der Wiener Moderne begründen sollten.
    155 Slaughter, V. und M. Heron, »Origins and Early Development of Human Body Knowledge«, Monographs of the Society for Research in Child Development 69 , 2 (2004), S. 103–113.
    156 Kokoschka, O., Mein Leben , München 1971, S. 73.
    157 Kokoschka, Mein Leben , S. 72.
    158 Solso, R. L., Cognition and the Visual Arts ,Cambridge, MA, 1994, S. 155.
    159 Simpson, K., »Viennese art, ugliness, and the Vienna school of art history: the vicissitudes of theory and practice«, Journal of Art Historiography 3 (2010), S. 7.
    160 M. E. Chevreul zitiert nach John Gage, Color in Art , London 2006, S. 50.
    161 Gage, Color in Art , S. 53.
    162 Hughes, R., Der Schock der Moderne: Kunst im Jahrhundert des Umbruchs , übers. von D.

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