Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
indem er Farben gegeneinander ausspielte, und demonstrierte, dass die Technik auch an dunklen Orten ihre Wirkung entfaltet. 161 Andere Künstler experimentierten selbst mit Farben und entdeckten dabei, dass das Verwenden von Farbe in einem Gemälde nichts anderes ist als eine Abstufung von Licht und Schatten. So erreichten sie eine neue Qualität des Farbenmischens, indem sie mit verschiedenfarbigen kleinen Punkten arbeiteten. Dieses Verfahren, der Pointillismus , wurde von Claude Monet und den Impressionisten perfektioniert und wunderbar eingesetzt, um natürliches Licht heraufzubeschwören und so die Atmosphäre einer Landschaft oder Meeresszenerie erstehen zu lassen. Besonders bemerkenswert ist der Pointillismus im Werk des Postimpressionisten Georges Seurat. Mit winzigen Pünktchen aus Primärfarben – rot, blau, grün – schuf Seurat den Eindruck zahlreicher lichtdurchfluteter Sekundär- und Tertiärfarben. Zudem erzeugen einige seiner Farbkombinationen, etwa intensives Gelb und Grün, starke Nachbilder in Purpur und Violett, wenn man den Blick von ihnen abwendet. All dies führte dazu, dass die ästhetische Wirkung von Kunst über das eigentliche Werk hinaus Eingang in die Erfahrungswelt der Betrachter fand.
Im Anschluss an Monets Experimente mit atmosphärischen Effekten und Seurats Experimenten mit Farben entdeckten Paul Signac, Henri Matisse, Paul Gauguin und Vincent van Gogh, dass beim Malen außer dem Modell oder der Landschaft weitere Elemente die Macht haben, Gefühle zu verkörpern und die emotionale Reaktion der Betrachter zu beeinflussen. Sie reisten nach Südfrankreich, denn »sie alle suchten eine größere Reinheit des Naturempfindens; sie wollten in der Natur eine Art chromatischer Kraft entdecken, Farbe, die den ganzen Menschen ansprach und auf Leinwand festgehalten werden konnte«. 162 Eine solche Farbe ist das intensive Gelb, das van Gogh entdeckte, wie der Kunstkritiker Robert Hughes bemerkt. Dazu schrieb van Gogh 1885 an seinen Bruder:
Ich bin ganz in Anspruch genommen von den Farbengesetzen. – Wenn man sie uns doch in unseren Knabenjahren gelehrt hätte! … Denn daß die Farbengesetze, die Delacroix zuerst bestimmte und die er in ihrem ganzen Umfang und Zusammenhang zutage förderte, zum Nutzen der Allgemeinheit – wie Newton das Gesetz der Schwerkraft und Stephenson das des Dampfes –, daß diese Gesetze der Farbe ein Licht sind, steht durchaus fest. 163
Als van Gogh 1888 sein Schlafzimmer in Arles malte (Abb. 20-13), verwendete er zum ersten Mal bewusst Komplementärfarben und erzeugte damit beeindruckende Effekte. »Nur die Farbe«, schrieb er zu diesem Bild, »muß hier die Wirkung erzielen … und die allgemeine Suggestion der Ruhe und des Schlafes geben.« 164
Abb. 20-13.
Vincent van Gogh, Schlafzimmer in Arles (1888).
Öl auf Leinwand.
Ein weiteres Bild aus demselben Jahr, Der Sämann , wird vom intensiven Gelb der Sonne am Horizont dominiert. »Eine Sonne, ein Licht, das ich, weil mir die Worte dafür fehlen, helles Schwefelgelb, helles Zitronengelb und Goldgelb nennen muß. Wie schön ist doch Gelb!«, 165 schrieb van Gogh. Doch wie Robert Hughes bemerkt hat, ist das Gelb der Sonne, abgesehen von seiner Schönheit, von einer erbarmungslosen Kraft, die auf die einsame Gestalt des Sämanns niederbrennt. Hughes fährt fort:
Man kann also nicht sagen, daß van Goghs Farbe – wenn sie auch reich und subtil lyrisch ist – einfach nur Freude ausdrücken wollte. … Eines seiner Vermächtnisse … ist die Freisetzung der Farbe, die nun mit rein optischen Mitteln Gefühle hervorrufen kann. … Er hatte die moderne Syntax der Farbe erweitert, so daß sich Mitleid und Schrecken zum formalen Experiment und zur Sinnenfreude gesellten. … Van Gogh war das Scharnier, durch das sich die Romantik des 19. Jahrhunderts schließlich in den Expressionismus des 20. Jahrhunderts wendete. 166
Impressionisten und Postimpressionisten machten Farbe zu einem emotionalen Ausdrucksmittel. Möglich wurde dies durch zwei technische Neuerungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zum einen entwickelte man eine Reihe synthetischer Pigmente, was die Nutzung unzähliger leuchtender Farben ermöglichte, die vormals nicht verfügbar gewesen waren. Zum anderen war Ölfarbe nun bereits gemischt in Tuben erhältlich. Zuvor hatten die Künstler trockene Pigmente per Hand zermahlen und dann sorgfältig mit Öl als Bindemittel vermischen müssen. Dank der Farbtuben ließen sich nun mehr Farben auf der Palette
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