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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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farblos, ohne emotionale Wärme. Dann würden wir möglicherweise den Bären sehen und es am klügsten erachten davonzulaufen … , doch wir würden uns im Grunde nicht ängstlich oder zornig fühlen . … Ich vermag mir nicht vorzustellen, welche Art von Angstgefühl noch bliebe, ohne das Empfinden von beschleunigtem Herzschlag oder flachem Atem, von zitternden Lippen oder schwachen Gliedern, von Gänsehaut oder revoltierenden Eingeweiden. … Für jede leidenschaftliche Empfindung gilt das Gleiche. Eine rein körperlose menschliche Emotion ist ein Nichts. 170
    Bei der Einleitung zu seiner Hypothese – dem emotionalen Pendant zu Hermann von Helmholtz’ unbewusster Top-down-Schlussfolgerung bei der Wahrnehmung – hielt James fest: »Ich werde mich zunächst auf die sogenannten gröberen Emotionen, wie Kummer, Furcht, Wut, Liebe, beschränken, die jeder Mensch mit einem starken organischen Widerhall verbindet.« 171 Doch er schrieb ebenfalls mit typischem Scharfblick über die »feineren Emotionen«, wie er sie nannte, darunter auch diejenigen, die mit der Schöpfung und Rezeption von Kunst verbunden sind. Für James waren die feineren Emotionen mit körperlichem Wohlbefinden verknüpft. Und wie seine Zeitgenossen Klimt, Kokoschka und Schiele betrachtete James das Hässliche und das Schöne als die zwei Seiten der Lebens-Medaille.
    Im Jahre 1885 legte der dänische Psychologe Carl Lange unabhängig von James eine ähnliche Theorie vor. Sie besagte, die unbewusste Emotion gehe der bewussten Wahrnehmung voraus. Die ersten Phasen der Emotion beträfen die im Körper und Verhalten sichtbaren Reaktionen auf einen starken emotionalen Reiz. Die bewusste Erfahrung der Emotion (was wir heute Gefühl nennen) erfolge erst, nachdem die Großhirnrinde Signale über unbewusste physiologische Veränderungen empfangen habe.
    LAUT DER JAMES-LANGE-THEORIE, als die sie bald bekannt wurde, ist ein Gefühl die direkte Folge spezifischer Informationen, die der Körper an die Großhirnrinde sendet. In allen Fällen wird die gesendete Information durch das spezifische Muster physiologischer Reaktionen bestimmt – Schwitzen, Zittern, veränderte Muskelspannung und Änderungen von Puls und Blutdruck –, das die inneren Organe als Reaktion auf den emotional besetzten Reiz erzeugen. Darüber hinaus spielt die unbewusste Wahrnehmung emotionaler Reize eine außerordentlich wichtige Rolle im Überlebenskampf (was übrigens generell für unbewusste Wahrnehmungen gilt): In Reaktion auf Veränderungen in unserer Umgebung bewirkt sie physiologische Veränderungen in unserem Körper und beeinflusst so unser Verhalten.
    1927 offenbarte der Physiologe Walter B. Cannon von Harvard eine mögliche Schwäche der James-Lange-Theorie. Als er untersuchte, wie Menschen und Tiere auf emotional besetzte Reize reagieren, fand Cannon heraus, dass die durch eine wahrgenommene Bedrohung sowie die durch eine wahrgenommene Belohnung hervorgerufene intensive Emotion gleichermaßen eine undifferenzierte Erregung auslösen – eine primitive Reaktion auf ein unvorhergesehenes Ereignis, die den Körper in Handlungsbereitschaft versetzt. Cannon prägte dafür den Begriff »Kampf-oder-Flucht-Reaktion« und behauptete, sie spiegele die begrenzten Wahlmöglichkeiten wider, die unsere Urahnen im Zuge einer Bedrohung oder auch einer Belohnung gehabt hätten. (Da die Reaktion nicht zwischen Leid und Wohlbefinden unterscheidet, sollte man vielleicht besser von der »Annäherungs- oder Vermeidungsreaktion« sprechen.) Da die Reaktion nicht – je nach Situation – modifiziert werde, so Cannon, könne sie keine Gefühle erklären, die für bestimmte Reize spezifisch seien. Außerdem stellte er fest, dass die Kampf- wie auch die Fluchtreaktion der sympathischen Komponente des vegetativen Nervensystems unterliege. Diese bewirkt, dass sich unsere Pupillen weiten, Puls und Atmung sich beschleunigen und unser Blutdruck infolge der Verengung der Blutgefäße steigt.
    Cannon und sein Schüler Philip Bard führten eine systematische Reihe von Studien durch, um herauszufinden, wo im Gehirn unsere emotionalen Reaktionen auf Schmerzreize repräsentiert sind. Diese Suche führte sie zum Hypothalamus. Wenn Cannon und Bard den Hypothalamus eines Tiers ausschalteten, verlor das Tier die Fähigkeit zu einer vollwertigen emotionalen Reaktion. Insofern wandelten Cannon und Bard gewissermaßen auf Carl von Rokitanskys und Freuds Spuren. Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, brachte Rokitansky als

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