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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Produkt der menschlichen Evolution, weil er unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen strukturiert und Gefühle mit Verhalten koppelt. So steuert er das Arbeitsgedächtnis, eine Form des Kurzzeitgedächtnisses, das aktuelle Wahrnehmungen mit der Erinnerung an frühere Erfahrungen abgleicht. Das Arbeitsgedächtnis ist entscheidend für das Fällen rationaler Urteile, weil es uns ermöglicht, unsere Gefühle zu kontrollieren und komplexes Verhalten vorauszusehen, zu planen und auszuführen.
    Fuster nennt den präfrontalen Cortex den »obersten Initiator« des Gehirns und behauptet, er sei von grundlegender Bedeutung für die Kreativität, weil er zwischen Alternativen wähle und Gedanken und Handlungen in Abstimmung mit inneren Zielen steuere. Infolgedessen spielt der präfrontale Cortex auch eine zentrale Rolle bei der Planung komplexer Handlungsweisen, beim Treffen kohärenter Entscheidungen sowie beim Offenbaren eines angemessenen Sozialverhaltens.
    Bei Menschen mit Schädigungen des präfrontalen Cortex sind die meisten Funktionen unbeeinträchtigt, doch treffen sie impulsive und irrationale Entscheidungen und haben Probleme damit, sich zielgerichtet zu verhalten. Sie reagieren normal auf »Schreckreize«, wie ein unerwartetes lautes Geräusch oder ein grelles Licht, was darauf schließen lässt, dass ihre vegetativen Reaktionen nicht gestört sind. Die Reize lösen jedoch weder Unmut noch Unbehagen bei ihnen aus, was darauf hindeutet, dass das Gehirn die Reize nicht verarbeitet. Demzufolge bleiben diese Menschen emotionslos – ihre Reaktionen wirken typischerweise nüchtern und unbeteiligt. Diese Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, hat tiefgreifende Folgen für Kommunikation und Verhalten.
    DIE ERSTE KLINISCHE DEMONSTRATION für die Rolle, die der präfrontale Cortex bei der Koordination von Emotion und Verhalten spielt, lieferte der Fall des Phineas Gage. Gage war Vorarbeiter beim Eisenbahnbau; 1848 führte er in der Nähe von Cavendish, Vermont, beim Bau einer Trasse eine Felssprengung durch. Als er das Sprengpulver festklopfen wollte, löste er unbeabsichtigt eine Explosion aus, die ein 13 Pfund schweres Stopfeisen durch seinen Schädel trieb und dabei den linken präfrontalen Cortex weitgehend zerstörte (Abb. 22-3). John Martyn Harlow, ein noch relativ unerfahrener Arzt aus Cavendish, behandelte Gage dort mit großem Geschick und Umsicht. Infolgedessen erholte sich Gage erstaunlicherweise von dem schrecklichen Unfall. Er konnte gehen, sprechen und nach zwölf Wochen wieder arbeiten.

    Abb. 22-3
    Doch Gage war nach dem Unfall ein anderer Mensch – nicht nur in seiner Persönlichkeit, sondern auch in seinem Sozialverhalten. Vor dem Unfall war er gewissenhaft und besonnen gewesen; danach war er völlig unzuverlässig, konnte nicht für die Zukunft planen oder sich situationsgerecht verhalten. Er nahm keine Rücksicht auf andere Personen und verhielt sich bei seiner Arbeit verantwortungslos. Hatte er die Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen, konnte er sich nicht entscheiden, welche für ihn wohl die beste wäre.
    Harlow beschrieb ihn folgendermaßen:
    Als Gage im April nach Cavendish zurückkehrte, war er bei guter Gesundheit und im vollen Besitz seiner Kräfte; bei sich trug er sein Stopfeisen, das bis zu seinem Tod zwölf Jahre später sein ständiger Begleiter war. Infolge der Verletzung wurde wohl das Gleichgewicht zwischen seinen geistigen Fähigkeiten und den animalischen Eigenschaften zerstört. Er war nun unberechenbar, launisch, respektlos, unduldsam, wenn man ihm Beschränkungen auferlegte, sprunghaft, fast ein Kind in seinen intellektuellen Fähigkeiten und Bekundungen, in seinem körperlichen Befinden und seinen Leidenschaften ein Mann. Körperlich war er vollkommen genesen, doch wer ihn einst als aufgeweckten, gescheiten, dynamischen, ausdauernden Geschäftsmann gekannt hatte, bemerkte die Veränderung in seinem Wesen. Sein inneres Gleichgewicht war dahin. Er pflegte seinen Neffen und Nichten wundersame Geschichten von seinen halsbrecherischen Fluchten zu erzählen, die jeglicher wahren Grundlage entbehrten, und hegte eine große Zuneigung zu Haustieren. 172
    Obwohl bei Gage keine Autopsie vorgenommen wurde, bewahrte man seinen Schädel mit dem Bolzenloch in einem Museum auf (Abb. 22-4). Jahre später erbrachte die medizinische Detektivarbeit von Hanna und Antonio Damasio, dass das Eisen zwei Bereiche des präfrontalen Cortex (die ventromediale Region und einen Teil der medialen Region)

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