Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
zerstört hatte, die wesentlich an der Hemmung der Amygdala und der Koordination emotionaler, kognitiver und sozialer Information beteiligt sind.
Die Damasios stützten ihre Schlussfolgerung teilweise auf eine andere Fallstudie: E. V. R., ein intelligenter und fähiger Buchhalter, hatte nach einer Operation eine Schädigung der ventralen Regionen seines präfrontalen Cortex erlitten. Obwohl E. V. R.’s Intelligenzquotient weiterhin überdurchschnittlich hoch war, war er nicht mehr der gut organisierte, verantwortungsbewusste Mensch von früher. Stattdessen war er unzuverlässig und sein Privatleben nur noch ein Scherbenhaufen. Außerdem offenbarte er verblüffende Anomalien. Als man an seiner Haut Messungen mit Elektroden durchführte, waren keinerlei Reaktionen auf grausame oder erotische Bilder festzustellen.
Mit ihren empirischen Studien über E. V. R. bekräftigten die Damasios Freuds Auffassung, dass Emotionen eine grundlegende Komponente der Kognition sind und entscheidenden Anteil an vernunftgeleitetem Handeln haben. Während E. V. R. durchaus logisch denken konnte, war seine praktische Entscheidungsfähigkeit gravierend beeinträchtigt, weil die Verbindung zwischen kognitiv-logischem Denken und emotionalen Äußerungen in seinem Gehirn gekappt war. Überdies lieferten die Untersuchungen unabhängige, empirische Belege dafür, dass der präfrontale Cortex eine zentrale Rolle bei der Top-down-Steuerung kognitiver Prozesse spielt, weil er für die Hemmung der Amygdala zuständig ist.
Abb. 22-4.
Phineas Gages Schädel und Stopfeisen.
Die Verknüpfung von Emotion und Kognition wird zudem durch eine Studie über sechs weitere Patienten gestützt, die die Damasios durchführten. Diese Patienten hatten als Erwachsene eine Verletzung der ventromedialen Region des präfrontalen Cortex erlitten. Ihre kognitiven Fähigkeiten waren normal, aber das Sozialverhalten war schwer gestört. Die Patienten hielten Verabredungen nicht mehr ein, erschienen nicht pünktlich am Arbeitsplatz und erledigten ihnen aufgetragene Aufgaben nicht. Darüber hinaus waren sie nicht zu Planungen für die unmittelbare oder weitere Zukunft in der Lage. Sie offenbarten eine erstaunliche Emotionslosigkeit, insbesondere einen Mangel an sozialen Gefühlen, wie Scham und Mitleid.
Diese Ergebnisse veranlassten die Damasios, 13 Personen zu untersuchen, deren ventromediale Region schon früh (zwischen der Geburt und einem Alter von sieben Jahren) geschädigt worden war. Sie stellten fest, dass diese Menschen als Kinder normal intelligent gewesen waren, doch in der Schule und zu Hause Probleme im Kontakt mit anderen Personen gehabt hatten. Es fiel ihnen schwer, ihr Verhalten zu steuern, sie besaßen keine Freunde, und Strafen blieben bei ihnen wirkungslos. Insbesondere hatten diese Patienten ihre Fähigkeit zu moralischen Erwägungen verloren.
Angesichts dieser Untersuchungen über die Verbindungen zwischen Amygdala und präfrontalem Cortex ist die traditionelle Vorstellung, dass Denken und Fühlen einander entgegengesetzt sind, nicht mehr haltbar. Nun wissen wir es besser – Emotion und Kognition arbeiten Hand in Hand. Das wäre eine Überraschung für alle Rationalisten gewesen, von Demokrit, einem bedeutenden vorsokratischen Philosophen Griechenlands um 400 v. Chr., bis zu Immanuel Kant, dem deutschen Philosophen aus dem 18. Jahrhundert. Sie waren der Auffassung, wir müssten Vernunft walten lassen und Gefühle unterdrücken, um moralische Urteile fällen zu können. Keineswegs überraschend aber wäre die neue Erkenntnis für Freud gewesen, der die Meinung vertrat, dass Gefühle für die moralische Entscheidungsfindung von grundlegender Bedeutung seien.
Joshua Greene, der sich in den letzten Jahren mit moralischer Entscheidungsfindung auseinandergesetzt hat, hat festgestellt, dass sich ethische Dilemmas nach dem Ausmaß unterscheiden, in dem sie unsere Emotionen beanspruchen, und dass diese unterschiedliche Beanspruchung auch Einfluss auf unsere moralischen Urteile hat. Bei der Untersuchung dieses Problems beschäftigte er sich eingehend mit einem interessanten Dilemma – dem sogenannten Trolley-Problem, das Ende der 1970er-Jahre erstmals von Philippa Foot und Judith Jarvis Thomson diskutiert wurde.
Das Trolley-Problem fragt, was man in folgender Situation tun würde: Eine führerlose Straßenbahn droht fünf Menschen zu überfahren und dabei zu töten. Die einzige Möglichkeit, diese Menschen zu retten, wäre das Umlegen einer Weiche, die
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