Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Emotionen, die mit solch bedrohlichen Situationen einhergehen, in den Griff zu bekommen. Diese Regulierungsmaßnahmen bestimmen, wie gravierend sich problematische Situationen auf unser geistiges und körperliches Wohlbefinden auswirken. Kevin Ochsner, ein führender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Top-down-Regulierungssysteme, ruft uns mit einem Hamlet-Zitat Shakespeares tiefe Einsichten in den menschlichen Geist und dessen Fähigkeit zu kognitiver Kontrolle ins Gedächtnis: »Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.« 185
Eine besonders gut untersuchte Form der Top-down-Kontrolle von Emotionen ist die Neubewertung , das Überdenken von Gefühlen. Die emotionale Wirkung von selbst äußerst unangenehmen Ereignissen oder Bildern lässt sich abschwächen und neutralisieren, indem man die Erfahrung auf sachliche Weise beurteilt und neubewertet. Neubewertung ist auch die Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie, die Aaron Beck, ein Psychotherapeut an der University of Pennsylvania, entwickelt hat. Diese Therapieform soll depressive Menschen in die Lage versetzen, die kognitive Verarbeitung von Informationen auf realistischere, neutrale Weise neu zu bewerten.
Wie wird die Neubewertung erreicht? Ochsner und seine Mitarbeiter untersuchten mit funktioneller MRT die neuronalen Systeme, die aktiv sind, wenn Menschen eine stark negativ besetzte Szene nüchtern in neuem Licht betrachten. Die Forscher stellten fest, dass eine Neubewertung mit verstärkter Aktivität in den dorsolateralen und ventrolateralen (orbitofrontalen) Regionen des präfrontalen Cortex einhergeht, die beide direkt mit Amygdala und Hypothalamus verbunden sind. Zudem ist die erhöhte Aktivität dieser Regionen mit einer verminderten Aktivität in der Amygdala verknüpft. Dieses Ergebnis entspricht unserer früheren Feststellung, dass Hirnregionen der oberen Ebene Emotionen nicht nur über direkte Verbindungen zum Hypothalamus steuern und bewerten, sondern auch – zumindest teilweise – durch eine Regulierung der Amygdala. Darüber hinaus manifestiert sich ihr Top-down-Einfluss in der Fähigkeit des präfrontalen Cortex, die Auffälligkeit eines Reizes zu beurteilen.
Die dorsolaterale Region des präfrontalen Cortex übt zudem eine kognitive Kontrolle über das Arbeitsgedächtnis und die Reaktionsauswahl aus. Somit hilft uns die Neubewertung auch, unsere Emotionen beim Ausführen von Aufgaben zu kontrollieren, bei denen wir uns die Ursache der Emotionen bewusst vor Augen führen müssen. Die Entdeckung der Neubewertung legt die Vermutung nahe, dass wir auch in vielfältigen anderen Kontexten ähnliche kognitive Kontrollstrategien zur Regulierung von Emotionen anwenden. Ochsner schließt aus diesen Ergebnissen, dass höhere Regionen des präfrontalen Cortex möglicherweise nicht nur über Emotionen, sondern auch über Gedanken eine kognitive Top-down-Kontrolle ausüben.
DANK DER UNTERSUCHUNGEN ÜBER REGULIERUNG und Regulierungssysteme besitzen wir nun erste biologische Erkenntnisse über Emotionen und die emotionale Neuroästhetik; wir wissen etwas genauer, wie das Gehirn der Betrachter die in einem Kunstwerk dargestellten Gefühlszustände neu erschafft und wie Emotionen, Imitation und Empathie im Gehirn repräsentiert sind. Die Entwicklung dieser Einblicke in die Biologie und Kognitionspsychologie der Wahrnehmung, Emotion und Empathie hilft uns zu verstehen, warum Kunst eine so starke Wirkung auf uns hat.
Verschiedene Regulierungssysteme, die verschiedene Gefühlskategorien steuern, können auf ein und dasselbe Ziel (etwa den präfrontalen Cortex oder die Amygdala) auf unterschiedliche Weisen einwirken. An welchem Punkt der Gefühlsskala wir uns genau befinden, wenn wir ein bestimmtes Kunstwerk betrachten, hängt also zum einen von der Amygdala, dem Striatum und dem präfrontalen Cortex ab und zum anderen von den verschiedenen Regulierungssystemen. Im Grunde verdanken wir den spezifischen und zugleich einander überlappenden Funktionen der Regulierungssysteme die Leichtigkeit, mit der wir von einem emotionalen Zustand zum anderen überwechseln können.
Gustav Klimts Judith ist ein gutes Beispiel für die Komplexität der Gefühle, die wir in Reaktion auf ein Gemälde durchleben können. Wie erwähnt, war Judith für die Juden eine unerschrockene, sich aufopfernde Heldin, die ihr Volk vor Holofernes gerettet hat. Während der Renaissance – zum Beispiel in Caravaggios Gemälde – wurde Judith stets als
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