Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
einflussreiche, idealisierte junge Frau dargestellt. Doch unter Klimts Händen wandelt sie sich zu einem erotisierten Wesen. Er stellt Judith als sexuell erregte Femme fatale dar, in der sich erotische Triebe mit der sadistischen Befriedigung darüber vereinen, Holofernes umgebracht zu haben (Abb. 8-27). Mit seiner Enthauptung hat sie die ultimative Kastration vollzogen und hebt seinen Kopf nun an ihre entblößte Brust.
Stellen wir doch einmal einige Spekulationen über die zahlreichen Weisen an, in denen Klimts Gemälde die Regulierungssysteme eines hypothetischen Betrachters beansprucht. Auf einer unteren Ebene könnten die Ästhetik der leuchtend goldenen Bildoberfläche, die weiche Gestaltung des Körpers und die insgesamt harmonische Kombination der Farben die Genussschaltkreise aktivieren und die Freisetzung von Dopamin auslösen. Falls Judiths glatte Haut und entblößte Brust die Ausschüttung von Endorphinen, Oxytocin und Vasopressin bewirken, empfindet man möglicherweise sexuelle Erregung. Die latente Gewalt, von der Holofernes’ abgeschlagener Kopf kündet, sowie Judiths sadistischer Blick und ihre hochgezogene Oberlippe könnten Noradrenalin freisetzen, das Puls und Blutdruck erhöht und die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslöst. Dagegen regen die weiche Pinselführung und die sich wiederholenden, fast meditativen Muster möglicherweise zur Ausschüttung von Serotonin an. Während der Betrachter das Bild und seinen facettenreichen emotionalen Gehalt in sich aufnimmt, hilft die Freisetzung von Acetylcholin im Hippocampus, das Bild im Gedächtnis des Betrachters zu speichern. Was ein Gemälde wie Klimts Judith letztendlich so unwiderstehlich und dynamisch macht, ist seine Komplexität, die Art und Weise, wie es im Gehirn eine Reihe separater und häufig widerstreitender emotionaler Signale aktiviert und sie zu einem unglaublich vielschichtigen und faszinierenden Gefühlswirbel verschmelzen lässt.
Die Erforschung der biologischen Regulierung von Emotionen und Empathie steht zwar noch am Anfang, verspricht uns jedoch bereits Erkenntnisse darüber, warum uns Kunst so sehr berührt. Die Kunst der Wiener Moderne verdeutlicht, wie die von Gesichts-, Hand- und Körpererkennung aktivierten Systeme die Hirnregionen regulieren, die für Emotionen, Imitation, Empathie und Theory of Mind zuständig sind. Auf diese Weise können wir die Gefühle, die Künstler mit ihren emotional aufgeladenen Werken vermitteln, wahrnehmen, uns mit ihnen identifizieren und sie nachempfinden.
185 Shakespeare, W., Hamlet , 2. Aufzug, 2. Szene, zitiert aus der Übersetzung von A. W. Schlegel in: William Shakespeare, Sämtliche Werke 2, Frankfurt 2010, S. 2264.
TEIL FÜNF
Die Entwicklung eines Dialogs zwischen
bildender Kunst und Wissenschaft
KAPITEL 29
DAS KOGNITIVE UNBEWUSSTE UND DAS KREATIVE GEHIRN
S igmund Freud hat als Erster darauf hingewiesen, dass ein großer Teil unseres geistigen Lebens unbewusst verläuft und für uns nur aus dem begrenzten Blickwinkel des Bewusstseins sichtbar ist. Jüngere Theorien über die Existenz von mehreren unterschiedlichen Formen unbewusster Funktionen gehen weit über Freud hinaus, beschreiten dabei aber häufig Wege, die er selbst bereits vorhersah.
EINEN GANZ NEUEN BLICK AUF DIE BEDEUTUNG unbewusster geistiger Prozesse für das Fällen von Entscheidungen verschaffte uns eine mittlerweile klassische Reihe von Experimenten, die erstmalig in den 1970er-Jahren von Benjamin Libet an der University of California, San Francisco, durchgeführt wurden. Laut der britischen Wissenschaftsphilosophin Susan Blackmore sind dies die berühmtesten Experimente zur Erforschung des Bewusstseins. Libets Ausgangspunkt war eine Entdeckung, die dem deutschen Neurowissenschaftler Hans Kornhuber 1964 gelungen war. Dieser hatte Versuchspersonen gebeten, ihren rechten Zeigefinger zu bewegen. Diese willentliche Bewegung maß er mit einem Sensor, der die angewandte Kraft berechnete, während zugleich Elektroden auf der Kopfhaut die elektrische Aktivität im Gehirn der betreffenden Person aufzeichneten. Nach Hunderten Versuchen stellte Kornhuber fest, dass jeder bewussten Bewegung ausnahmslos ein kleiner Ausschlag in der Hirnstromaufzeichnung voranging, ein Funke des freien Willens! Er bezeichnete dieses Hirnpotenzial als Bereitschaftspotenzial und fand heraus, dass es etwas weniger als eine Sekunde vor der bewusst ausgeführten Bewegung erfolgte.
Libet stützte sich in seinem Experiment auf Kornhubers Erkenntnisse. Er
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