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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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bat seine Versuchspersonen, einen Finger zu heben, wann immer sie den bewussten Drang dazu verspürten. Er brachte Elektroden an ihrer Kopfhaut an und registrierte ebenfalls das Auftreten eines Bereitschaftspotenzials etwas weniger als eine Sekunde (1000 Millisekunden), bevor die jeweilige Person ihren Finger hob. Darauf prüfte Libet die Zeitspanne zwischen dem bewussten Entschluss, den Finger zu bewegen, und dem Auftreten des Bereitschaftspotenzials. Zu seiner Verblüffung entdeckte er, dass das Bereitschaftspotenzial nicht etwa nachher auftrat, sondern 300 Millisekunden, bevor eine Person den Drang verspürte, ihren Finger zu bewegen! Indem Libet also nichts weiter tat, als die elektrische Hirnaktivität zu beobachten, konnte er vorhersagen, was eine Person tun würde, noch bevor ihr selbst bewusst wurde, dass sie sich für diese Aktivität entschieden hatte.
    Diese Studien wurden 2011 von dem Neurochirurgen Itzhak Fried und seinen Mitarbeitern an der University of California, Los Angeles, weitergeführt. Sie untersuchten die Gehirne von Patienten, die sich Epilepsie-Operationen unterzogen, und stellten fest, dass das Feuern einer relativ kleinen Gruppe von etwa 250 Neuronen in unserem Gehirn den Willen, sich zu bewegen, vorhersagt. Dieses Ergebnis entspricht der These, dass unser Gefühl, eine willentliche Entscheidung zu treffen, in Wahrheit vielleicht nur eine »Aktivitätsanzeige« in den Hirnregionen ist, die willentliche Handlungen steuern.
    Falls eine Handlung bereits im Gehirn festgelegt wird, bevor man sich bewusst für sie entscheidet – wo bleibt dann unser »freier« Wille? Diese neuesten Forschungen legen nahe, dass unser Gefühl, eine Bewegung bewusst herbeizuführen, nur eine Illusion ist, die nachträgliche Rationalisierung eines unbewussten Prozesses, ganz ähnlich wie das Verhältnis von Gefühl zu Emotion. Können wir freie Entscheidungen treffen, selbst wenn wir dies nicht bewusst tun? Steht der bewusste Entschluss in irgendeinem Kausalzusammenhang mit der Handlung?
    Libet vermutet, dass die Initiierung einer willentlichen Handlung zwar blitzschnell in einem unbewusst arbeitenden Teil des Gehirns erfolgt, dass jedoch das langsamer aktivierte Bewusstsein unmittelbar, bevor die Handlung eingeleitet wird, in einem Top-down-Prozess sein Einverständnis erklärt oder auch ein Veto einlegt. Demnach bestimmt das Bewusstsein in den 150 Millisekunden, bevor wir unseren Finger heben, ob wir ihn bewegen oder nicht. Blackmore hat ähnlich argumentiert, dass sich bewusstes Erleben langsam aufbaut und einige Hundert Millisekunden braucht, um eine Handlung einzuleiten.
    Libets Entdeckung bisher unbekannter unbewusster Dimensionen bei der Entscheidungsfindung wurde von Daniel Wegner, einem Sozialpsychologen an der Harvard University, fortgeführt. Das Gefühl, über einen bewussten Willen zu verfügen, hilft uns laut Wegners Untersuchungen, die Urheberschaft an den Dingen, die unser Geist und Körper tun, zu erkennen und im Gedächtnis zu behalten. Der bewusste Wille ist demzufolge der Kompass des Geistes: Auf den Ablauf künftiger Handlungen bezogen ist er ein richtungsempfindlicher Mechanismus, der die Beziehung zwischen Denken und Handeln prüft und mit »Das habe ich gewollt« reagiert, wenn die beiden miteinander harmonieren.
    Aufgrund dieser Überlegungen und Libets Entdeckung geht Wegner von einem Schaltprotokoll aus, nach dem wir nur dann das Gefühl einer bewussten Willensäußerung haben, wenn wir uns als Urheber eines Ereignisses empfinden – wenn wir wahrnehmen, dass unsere bewussten Gedanken eine wahrgenommene Handlung verursacht haben. Falls unbewusste Gedanken die Handlung hervorrufen oder wir die Handlung nicht wahrnehmen, haben wir auch nicht den Eindruck des Willens. Diese Theorie über den freien Willen deckt sich in mehrfacher Hinsicht mit dem zweistufigen Verarbeitungsschema im Zusammenhang mit Emotion und Gefühl sowie der Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung visueller Informationen in sozialen Interaktionen. Ist es möglich, dass die Kreativität, wie die Emotion, schon unbewusst entsteht, bevor wir uns ihrer bewusst werden? Diese neueren Erkenntnisse über unbewusste geistige Prozesse haben dem Studium des Bewusstseins und der relativen Bedeutung bewusster und unbewusster Vorgänge für die Kreativität eine neue Richtung gewiesen.
    Was genau aber ist das Bewusstsein und wo im Gehirn ist es angesiedelt? Wir benutzen den Begriff ganz selbstverständlich, doch weil er eine Reihe sehr

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