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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Maskierreiz bewirkt, dass das Wort unlesbar wird, während das unbewusste visuelle Erkennen des Wortes weiter gewährleistet ist. Dieser Vorgang aktiviert Neuronen in spezialisierten Arealen der linken primären Sehrinde und des linken Temporallappens. Dagegen aktiviert ein bewusst wahrgenommenes Wort nicht nur Hirnrindenareale, die an unbewusster Wahrnehmung beteiligt sind, sondern auch Pyramiden-Neuronen in ganz verschiedenen Bereichen des unteren parietalen, präfrontalen und cingulären Cortex.
    MIT FUNKTIONELLER MRT FAND DEHAENE heraus, dass die bewusste Wahrnehmung eines Bildes im Verlauf der visuellen Verarbeitung erst relativ spät erfolgt – erst eine drittel bis eine halbe Sekunde nach Beginn des Verarbeitungsprozesses. Die erste, unbewusste Aktivität regt im Allgemeinen nur die lokalen Regionen der primären Sehrinde (V1 und V2) an. Während dieser ersten 200 Millisekunden der visuellen Verarbeitung wird die betreffende Person bestreiten, überhaupt einen Reiz wahrgenommen zu haben. Doch sobald die Schwelle zum Bewusstsein überschritten ist, kommt es zu einem Ausbruch simultaner Übertragungen von neuronaler Aktivität in weitverzweigte Hirnregionen (Abb. 29-1). Daher ist, entsprechend Freuds Vorhersagen, zu vermuten, dass unbewusste Prozesse nahezu sämtlichen Aspekten unseres bewussten Lebens zugrunde liegen – darunter auch dem Wahrnehmen, Schaffen und Wertschätzen eines Kunstwerks.
    Um zu bestimmen, was geschieht, wenn die bewusste Wahrnehmung in Reaktion auf einen Sinnesreiz aktiviert wird, kombinierte Dehaene bildgebende Verfahren mit simultanen elektrischen Aufzeichnungen. Dabei stellte er fest: Wenn eine Information in weitverzweigte Bereiche übertragen und bewusst wahrgenommen wird, synchronisiert dies auch charakteristische Rhythmen elektrischer Aktivität. Vermutlich regen diese Rhythmen das Bewusstsein an, indem sie ein Netzwerk von Pyramiden-Neuronen in den parietalen und frontalen Hirnregionen aktivieren, die eine Top-down-Verstärkung bewirken. Ähnliche Ergebnisse erbrachten Experimente zum Hör- und Tastsinn.
    In Baars’ Theatermetapher entfacht der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit die Aktivität der unsichtbaren Ensemble- und Crewmitglieder, die die Ereignisse auf der Bühne gestalten, sowie die des Publikums. Biologisch gesehen wird bewusste Aufmerksamkeit signalisiert, wenn die Pyramiden-Zellen in zahlreichen Regionen im gesamten Gehirn eine Aktivität auslösen, vor allem aber in Bereichen des präfrontalen Cortex, die mit dem Arbeitsgedächtnis und bewusster Entscheidungsfindung assoziiert sind. Demnach verteilen die Pyramiden-Zellen Signale über Aktivität im Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf ein weitverzweigtes, sonst autonomes Publikum.
    WIR WISSEN NICHT GENAU, WELCHE ROLLE das Unbewusste bei komplexen kognitiven Vorgängen spielt. Dennoch hat die Vorstellung, dass sich unbewusste geistige Prozesse auf geordnete und stimmige Weise mehreren Aufgaben zugleich widmen können, während sich unsere bewusste Aufmerksamkeit nur auf eine begrenzte Menge an Informationen fokussieren kann, den niederländischen Sozialpsychologen Ap Dijksterhuis zu einer interessanten These geführt: Beim Fällen von Entscheidungen offenbaren sich wesentliche Unterschiede zwischen unbewusstem und bewusstem Denken.
    Dijksterhuis folgt Freud in der Annahme, dass das bewusste Denken nur einen Bruchteil der gesamten Arbeitskapazität des Gehirns ausmacht. Hinzu kommt, dass sich bewusstes Denken zwar besser für einfache, quantitative Entscheidungen mit nur wenigen Optionen eignet – wie die Überlegung, in welche Richtung die Autobahn führt, oder die Lösung einer Rechenaufgabe. Es ist jedoch schnell überfordert, wenn es um komplexe, qualitative Entscheidungen mit vielen möglichen Alternativen geht, wie beim Autokauf, beim Einschlagen einer neuen Berufslaufbahn oder auch bei der ästhetischen Beurteilung eines Gemäldes. Der Grund für die Überforderung ist, dass das Bewusstsein Aufmerksamkeit erfordert, und diese kann sich immer nur auf eine kleine Auswahl an Möglichkeiten richten – häufig nicht mehr als eine auf einmal.
    Unbewusstes Denken hingegen umfasst ein riesiges Geflecht autonomer, spezialisierter Netzwerke im gesamten Gehirn, die in der Lage sind, unabhängig voneinander eine Reihe von Prozessen zu bearbeiten. Laut Dijksterhuis eignet sich unbewusstes Denken besser für Entscheidungen, die den Simultanvergleich vieler Alternativen voraussetzen, weil unser Gedächtnis zu einem großen

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