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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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erfolgreich mit Psychoanalyse behandelten, Julius Wagner von Jauregg, der eine Fiebertherapie gegen Syphilis einführte, und Manfred Sakel, der eine Insulin-Koma-Therapie gegen psychotische Erkrankungen entwickelte.
    Der nächste Direktor der Psychiatrischen Klinik, Richard von Krafft-Ebing, schlug einen anderen Weg ein. Genau wie Meynert sezierte er die Gehirne seiner verstorbenen Patienten und interessierte sich für die Verknüpfung von Psychiatrie und Neurologie, aber anders als Meynert war er an erster Stelle Kliniker. Überdies hielt er die Psychiatrie im Wesentlichen für eine empirische und deskriptive klinische Wissenschaft und nicht für eine analytische. Demzufolge spielte er die Bedeutung der Hirnforschung für die klinische Psychiatrie herunter. Krafft-Ebing war aber nicht nur ein hervorragender deskriptiver Psychiater und der Autor von zwei zentralen Texten über forensische sowie klinische Psychiatrie, sondern auch der erste Psychiater, der sich mit der Funktion der sexuellen Aktivität für das Alltagsleben auseinandersetzte und damit »das Unaussprechliche aussprechbar machte, gewiss in medizinischen Kreisen und sogar darüber hinaus«. 25
    In seinem klassischen Text von 1886, Psychopathia Sexualis, mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung , beschrieb Krafft-Ebing ein ganzes Spektrum sexuellen Verhaltens und vermutete bereits die große Bedeutung der Geschlechtstriebe – zwei Ideen, die später in der Psychoanalyse weiterentwickelt wurden. Er umriss die Wichtigkeit der Geschlechtstriebe nicht nur im Rahmen normaler und abnormer sexueller Funktionen, sondern auch für Kunst, Dichtung und andere Formen der Kreativität. Er führte Begriffe wie Sadismus, Masochismus und Pädophilie ein, um spezifische Arten sexuellen Verhaltens zu beschreiben, und schaffte so die Grundlage für die moderne Sexualpathologie. 26 Obwohl das Lehrbuch zunächst auf Latein erschien – um eine medizinische Leserschaft zu erreichen und zugleich Heranwachsende abzuschrecken, die auf der Suche nach sensationeller Literatur waren –, zog es Scharen von Lesern an, unter ihnen vermutlich Künstler und Wissenschaftler, die ihre auf dem Gymnasium erworbenen Lateinkenntnisse nun erstmalig zu erproben dachten.
    Krafft-Ebing gilt als ein Begründer der modernen, breit gefächerten Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens in all seinen Ausprägungen. Für damalige Verhältnisse war sein Werk erkenntnisreich, doch einigen seiner Ideen wird heute widersprochen. Statt Homosexualität und andere sexuelle Praktiken als Variationen bürgerlicher Normen zu betrachten, waren sie für Krafft-Ebing Anzeichen für Abnormität und Krankheit. Laut der Wiener Medizinhistorikerin Tatjana Buklijas akzeptierten viele Homosexuelle diese Sichtweise und versuchten sich behandeln zu lassen.
    Freud und Arthur Schnitzler studierten an der Wiener Medizinischen Schule bei Meynert und wurden auch von Krafft-Ebing beeinflusst. In dieser Hinsicht aber waren sie nicht seiner Meinung. Wenn auch nicht immer erfolgreich, versuchten Freud und Schnitzler, moralische Bewertungen zu vermeiden. Sie machten es sich zur Lebensaufgabe, Varianten sexueller Praktiken zu erfassen und zu erforschen und auf diese Weise das, was man stets hinter verschlossenen Türen gehalten hatte, kollektiv erfahrbar zu machen.
    SIGMUND FREUD (ABB. 4-3) WURDE 1856 als Kind jüdischer Eltern in Freiberg geboren, einer Kleinstadt in Mähren, die nun zur Tschechischen Republik gehört. 1859 zog die Familie nach Wien, wo Freud bis Juni 1938 lebte. Infolge Österreichs Anschluss an Deutschland emigrierte er nach England und starb dort am 23. September 1939. In einem Gedicht zum Tode Freuds sagte der britische Dichter W. H. Auden, Freuds Denken repräsentiere nicht länger die Ideen eines Einzelnen, sondern ein »ganzes Klima des Empfindens«. Obwohl sich Freuds Werk im Laufe seines langen Lebens ständig weiterentwickelte, lässt es sich in zwei große Phasen einteilen. Während der ersten Phase, die 1874 begann und etwa bis 1895 andauerte, war er ein Student der Neurologie, der versuchte, das Geistesleben mithilfe grundlegender neurobiologischer Begriffe zu beschreiben. Während der zweiten Phase, von 1900 bis 1939, entwickelte er eine neue Psychologie des Geistes, die von der Biologie des Gehirns unabhängig war.

    Abb. 4-3.
Sigmund Freud (1856–1939).
Dieses Porträt wurde 1885 aufgenommen.
In diesem Jahr unternahm Freud
eine Studienreise zu dem

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