Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Ludwig gaben der physiologischen und medizinischen Wissenschaft ein neues Gesicht, indem sie ein Forschungsprogramm ins Leben riefen, das den Vitalismus durch eine moderne, reduktionistische, analytische Biologie ersetzen sollte. Laut dem Vitalismus werden Zellen und Organismen durch eine Lebenskraft gesteuert, die sich nicht auf physikalische und chemische Gesetze zurückführen lässt und daher nicht wissenschaftlich untersucht werden kann. Im Jahre 1842 fasste Emil du Bois Reymond die Haltung der Gruppe folgendermaßen zusammen: »Brücke und ich haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen.« 29 Freud sprach von Brücke als »der größten Autorität, die je auf mich gewirkt hat«. 30
Von Brücke zu Untersuchungen über das Nervensystem ermutigt, schloss Freud eine Studie über das Neunauge, ein primitives Wirbeltier, ab sowie eine weitere über den Flusskrebs, ein primitives wirbelloses Tier. Er stellte fest, dass sich die Nervenzellen der Wirbellosen nicht grundlegend von denen der Wirbeltiere unterscheiden. Infolge dieser Arbeiten entdeckte Freud – unabhängig von Santiago Ramón y Cajal, aber ohne die Bedeutung seiner Beobachtung zu erkennen –, dass die Nervenzelle, das Neuron, der Grundbaustein und die Signaleinheit aller Nervensysteme ist. In einem 1884 veröffentlichten Vortrag über »Die Struktur der Elemente des Nervensystems« betonte Freud, der Unterschied zwischen dem Gehirn der Wirbeltiere und dem der Wirbellosen liege nicht in der Art der Nervenzellen, sondern in ihrer Anzahl und der Art ihrer Verbindungen. Wie der große Hirnerforscher Oliver Sacks bemerkt, stützen Freuds frühe Arbeiten Darwins Idee, dass Evolution konservativ vorgeht – sie verwendet ein und dieselben anatomischen Grundbausteine in einer Vielzahl immer komplexerer Anordnungen.
DIESER VIELVERSPRECHENDE BEGINN war der Startschuss für Freuds produktive wissenschaftliche Karriere. Um sich aber ganz der Forschung widmen zu können, hätte er über ein privates Einkommen verfügen müssen, was nicht der Fall war. Brücke, der wusste, dass Freud mit Martha Bernays verlobt war, riet ihm, das Labor zu verlassen und in der klinischen Praxis zu arbeiten. Freud folgte seinem Rat und sammelte drei Jahre klinische Erfahrungen – zuerst bei Meynert in der Psychiatrie, aber dann auch in anderen Abteilungen des Krankenhauses. Im Verlauf seiner Studien mit Meynert spielte Freud mit dem Gedanken, Neurologe zu werden, und arbeitete auf den Stationen des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, um seine diagnostischen Fertigkeiten zu verbessern. Während dieser Zeit stellte er mehrere Untersuchungen über die Neuroanatomie des verlängerten Rückenmarks an (in diesem Teil des Nervensystems befinden sich Zentren für die Atmung und die Herzrhythmen) und führte verschiedene bedeutende klinische neurologische Studien über die zerebrale Kinderlähmung und Aphasien durch.
1891, im Laufe seiner Aphasiestudien, begegnete Freud Patienten, die nicht in der Lage waren, Objekte der visuellen Welt zu erkennen, obwohl Auge, Netzhaut und Sehnerv keine Schädigung aufwiesen. Er bezeichnete diese Blindheit als Agnosie , also »Wissensstörung«, und folgerte, dass die Blindheit von einer Schädigung im Gehirn hervorgerufen werde. Außerdem führte er eine Reihe unabhängiger pharmakologischer Experimente mit Kokain durch, die ihn schließlich davon überzeugten, dass diese Substanz als Lokalanästhetikum einsetzbar sei, was dann von Augenchirurgen erprobt wurde. Meynert hielt viel von Freuds Begabungen. So schrieb Freud in seiner Selbstdarstellung : »Eines Tages machte mir Meynert … den Vorschlag, ich solle mich endgiltig der Gehirnanatomie zuwenden, er verspreche, mir seine Vorlesung abzutreten.« 31
In Wien gab es jedoch zahlreiche Neurologen und nur wenige Patienten. Auf der Suche nach verwandten medizinischen Bereichen, in denen er bedeutsame Leistungen vollbringen und zugleich ausreichend verdienen konnte, entdeckte Freud sein Interesse für neurotische Erkrankungen, insbesondere Hysterie, unter der 1880 in Wien sehr viele Menschen litten. Bestärkt in diesem Interesse wurde er von Josef Breuer, einem der versiertesten Internisten Wiens, den Freud in Brückes Labor kennengelernt und zum Freund gewonnen hatte. Nach Freuds Heirat 1886 vertiefte sich die Freundschaft noch. Freud nannte seine älteste Tochter sogar nach Breuers Ehefrau Mathilde. 32
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