Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
9-10). Sein Ziel dabei, sowie bei nachfolgenden Porträts, war, wie er in seiner Autobiografie schreibt, »eine oft in der Konvention verschlossene Persönlichkeit wie mit einem Büchsenöffner ans Licht zu bringen.« 108
Abb. 9-10.
Oskar Kokoschka, Der Trancespieler (Schauspieler Ernst Reinhold) (1909).
Öl auf Leinwand.
Um Reinholds unbewusste Wünsche darzustellen, verwendet Kokoschka kühne, laute, unnatürliche Farben und trägt die Farbe rasch auf, arbeitet sie uneben in die Leinwand ein und verreibt sie energisch mit den Fingern und dem Pinselstiel. An manchen Stellen des Porträts kratzt er die Farbe mit einem Stock oder der Hand von der Leinwand ab. Kokoschka platziert den rothaarigen Schauspieler dramatisch in der Mitte des Vordergrunds und lässt ihn durch den Blick seiner durchdringenden blauen Augen direkten Kontakt mit dem Betrachter aufnehmen. Hier, wie in seinen anderen Porträts, wählt der Künstler einen abstrakten Hintergrund – nicht nur als Reaktion auf Klimts ornamentalen Hintergrund, sondern auch um den Blick dramatisch auf die Person und insbesondere auf ihr Innenleben zu lenken. Die Kunsthistorikerin Rosa Berland schreibt, dass dieser Hintergrund, gemeinsam mit der rauen Oberfläche und dem gespenstischen Licht, die Aufmerksamkeit auf den Malvorgang lenkt und somit als visuelle Metapher für den »künstlerischen Schaffensprozess« dient.
Kokoschka schrieb später über dieses Gemälde:
Eines der mir besonders wichtigen Bilder, »Der Trancespieler«, Porträt meines Schauspielerfreundes Ernst Reinhold, zeigt ein Detail, das bisher übersehen wurde. In der Eile habe ich einer Hand, die er im Bilde an die Brust legt, nur vier Finger gemalt. Ob ich den fünften einfach vergessen habe? Ich selber vermisse ihn nicht, weil die Aufhellung der Psyche des Modells mir wichtiger war als die Aufzählung von Details: fünf Finger, zwei Ohren, eine Nase. 109
Kokoschka gab diesem Porträt von Ernst Reinhold erst einige Zeit nach dessen Vollendung den neuen Titel Der Trancespieler , weil »ich mir manches über ihn dachte, was ich in Worten nicht ausdrücken kann«. 110 Was Kokoschka eindeutig nicht hatte in Worte fassen können, war die Antwort auf die Frage, wieso ein so guter Beobachter wie er einen Finger an der Hand seines Freundes vergessen konnte. Wenn wir der Phase der großen Porträts nachspüren, die mit Der Trancespieler begann, wird klar, dass dies eine Fehlleistung im Freud’schen Sinne war – eine Auslassung von tiefgehender unbewusster Bedeutung.
Die linke Hand des Schauspielers repräsentiert Kokoschkas ersten Versuch, Gedanken über Psyche und Gefühle des Modells durch die verzerrte Darstellung eines Körperteils zu vermitteln. Verfremdete Abbildungen von Körper und Fleisch wurden später sein bevorzugtes Hilfsmittel, um das Innenleben eines Modells zu analysieren und zu repräsentieren. In Die träumenden Knaben bedient sich Kokoschka noch eines Klimt’schen dekorativen Stils, und seine Ikonografie ist ornamental und symbolisch. In Der Trancespieler erkennen wir eine bedeutende Verlagerung – nun wird die Bedeutung nicht mehr durch traditionelle, allegorische Symbole transportiert, sondern überwiegend durch den Körper. Klimt nutzte die Hände, um in Der Kuss und Adele Bloch-Bauer Bedeutungen zu symbolisieren, doch Kokoschka geht noch weiter: Die vier Finger an Reinholds linker Hand symbolisieren möglicherweise eine gewisse Unfertigkeit in der Persönlichkeit des Mannes. Diese Ikonografie von Händen, Armen und Körper wurde später von Schiele fortgeführt.
Im Jahre 1910 stellte Kokoschka 27 Ölgemälde aus; 24 davon waren Porträts, und alle malte er ohne vorbereitende Studien in nur einem Jahr! Von 1909 bis 1911 erstellte er über 50 Porträts, meist von Männern. Darin enthüllt er den Charakter jeweils auf dramatische Weise, insbesondere über Augen, Gesicht und Hände des Modells. Manchmal, wie 1910 in dem Porträt von Rudolf Blümner, vermittelt er mit diesen Körperteilen tiefe Angst – oder schieres Entsetzen (Abb. 9-11). Kokoschka schätzte Blümner als Freund der modernen Kunst und schrieb in seiner Biografie: »[Er] kam mir vor wie ein Don Quichotte, der mit einer nicht ermüdenden Kraft immer wieder für die … moderne Kunst in Malerei, Plastik, Literatur und Musik kämpfte, ein Kampf, sinnlos gegen zeitbedingte Vorurteile, so sinnlos wie gegen Windmühlen. Und ich habe ihn in seiner Gestik so gemalt und sein ausdrucksvolles Gesicht auch mehrmals
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