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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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nachhaltige Wirkung auf die gesamte europäische Kunstszene. Reproduktionen der Werke des Künstlers zirkulierten in Wien, Klimt reiste 1909 nach Spanien, um sich El Grecos Originale anzusehen, und Kokoschka begann, El Grecos überlange Gesichter und Körper in seine eigenen Arbeiten zu integrieren.
    Die Einflüsse, die Kokoschkas Expressionismus bestimmten, lassen sich also über van Gogh und den frühen Expressionismus Messerschmidts bis zum Manierismus El Grecos und Tizians zurückverfolgen. Ein Jahrzehnt später verwiesen Gombrich und Ernst Kris, die beide an der Wiener Schule der Kunstgeschichte studierten, auf diese Abstammungslinie vom Manierismus zum Expressionismus und bezeichneten Letzteren als Synthese aus der klassischen manieristischen Kunsttradition, Aspekten der primitiven Kunst und der Karikatur. Die ersten Zeugnisse dieser Synthese in der europäischen Porträtkunst waren wohl Messerschmidts Charakterköpfe sowie Kokoschkas Selbstbildnis (Der Krieger) und die Porträts von 1909 bis 1910.
    DER BERLINER KUNSTHÄNDLER PAUL CASSIRER verwendete den Begriff »Expressionismus«, um das Werk Edvard Munchs von dem der Impressionisten abzugrenzen. Munchs Kunst betonte den zeitlosen, subjektiven Ausdruck tief verwurzelter, universeller Emotionen in einer getriebenen, angstbesetzten Welt, während die Impressionisten den Fokus auf die fließende äußere Erscheinung von Menschen und Dingen in natürlichem Licht richteten. Im weitesten Sinne ist der Expressionismus gekennzeichnet durch die Nutzung einer übertriebenen Bildsprache und unnatürlicher, symbolträchtiger Farben, um das subjektive Empfinden der Betrachter dieser Kunst zu verstärken.
    Dieser entscheidende Übergang von vergänglichen, oberflächlichen Eindrücken zu einer beständigeren, kraftvolleren und emotionaleren Ausdrucksweise wird besonders gut von van Gogh beschrieben. In einem Brief an seinen Bruder Theo erläutert der Künstler, dass es beim Malen des Porträts eines geschätzten Freundes nur in einem ersten Schritt darum ging, das Abbild des Freundes so wirklichkeitsnah wie möglich auf die Leinwand zu bannen. Als das erledigt war, machte van Gogh sich daran, die Farben für Modell und Umgebung zu verändern:
    Um es zu vollenden, werde ich jetzt eigenmächtiger Kolorist: Ich übertreibe das Blond der Haare. Ich komme zu Orangetönen, zum Chrom, zur hellen Zitronenfarbe. Hinter dem Kopf male ich … das Unendliche. Ich mache einen Grund von reichstem Blau, das kräftigste, das ich herausbringen kann. Und so bekommt der blonde, leuchtende Kopf auf dem Hintergrund von reichem Blau eine mystische Wirkung wie der Stern im tiefen Azur. 104
    Kokoschka verwendete den von van Gogh entwickelten kurzen Pinselstrich und den von Munch entwickelten kraftvollen Ausdruck von Emotionen, doch er beließ es nicht bei diesen Erweiterungen des Manierismus, sondern führte eine künstlerische Vergrößerung von Gesicht, Händen und Körper ein, die zuvor der Karikatur vorbehalten gewesen war. Während van Gogh die Übertreibung überwiegend nutzte, um äußere Merkmale zu unterstreichen, und Munch sie vor allem verwendete, um den sichtbaren Ausdruck von Entsetzen darzustellen, enthüllte Kokoschka mit der Übertreibung eine neue innere Wirklichkeit – die psychischen Konflikte des Modells und die qualvolle Selbsterforschung des Künstlers. Dabei ging er über Klimts Moderne hinaus und begründete einen ausgereiften, explosiven österreichischen Expressionismus.
    Über die expressionistische Kunst und Kokoschkas Werk in dieser Periode schreibt Gombrich:
    Was das Publikum an der expressionistischen Kunst am meisten verstörte, war nicht so sehr, daß ein Naturvorbild verzerrt, als daß die Schönheit dadurch bedroht wurde. Daß ein Karikaturist die Häßlichkeit der Menschen herausarbeitete, ließ man sich gefallen, schließlich gehörte das zu seinem Beruf. Aber es erboste die Leute, daß Künstler, die ernst genommen werden wollten, die Natur nicht veränderten, um sie zu verschönern, zu idealisieren, sondern um sie, wie man sagte, zu verhäßlichen. 105
    Die Porträtmalerei hat in der Geschichte der abendländischen Kunst immer eine sehr bedeutende Rolle gespielt, weil das Gesicht so viel verrät. Vor dem Aufkommen der Fotografie ließen sich Personen aus wohlhabenden und einflussreichen Familien üblicherweise porträtieren, um der Nachwelt zu vermitteln, wie sie aussahen. Darüber hinaus waren Porträts erfolgreich, weil die Betrachter das Porträt vor

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