Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
ihnen mit den Gesichtern anderer Personen von Rang und Namen, an die sie sich erinnerten, vergleichen konnten. Dies war Kokoschka bewusst und so machte er sich daran, einige Grundannahmen der Porträtmalerei zu ändern. Er gab die althergebrachte Tradition auf, die Modelle – seien sie königlicher, aristokratischer oder schlichterer Herkunft – als Repräsentanten aller Mitglieder ihrer jeweiligen Schicht darzustellen. Während also Klimt idealisierte Frauen malte, die für alle Frauen, von Adele Bloch-Bauer bis Judith, zu stehen schienen, versuchte Kokoschka, mit seinen sehr individuellen »Seelenbildern«, das Innenleben einer ganz bestimmten Person zu offenbaren. Der Kunsthistoriker Hilton Kramer schreibt über Kokoschkas frühe Porträts:
Da ist … eine tiefe Empathie und die Entschlossenheit, sich nicht von den Masken des öffentlichen Auftretens täuschen zu lassen, womit ihm anscheinend gelingt, bis zum Innersten der Seele vorzudringen. 106
Klimt malte Frauen vor einem stark ornamentierten Hintergrund, um ihre Zeitlosigkeit zu unterstreichen, wogegen Kokoschka einen schlichten, dunklen Hintergrund wählte, um die psychischen und individuellen Eigenschaften von Gesicht, Augen und Händen der von ihm gemalten Personen herauszuarbeiten. Hilton Kramer, der für die New York Times und den New York Observer als Kunstkritiker arbeitete, schreibt:
Kokoschka platziert alle seine Objekte in einen Bildraum, der weder dem Raum der Natur noch irgendeinem identifizierbaren häuslichen Bereich entspricht. Es ist ein Raum des Grauens, unheimlich und unirdisch zugleich, heimgesucht von Dämonen und bedroht von Irrsinn. Das Licht in diesem Raum, mit seinem bizarren Helldunkel und den furchterregenden Farbtönen, ist flüchtig und unverfroren intim. 107
Wie wir gesehen haben, verschmähte Kokoschka die dekorativen Motive, die Klimt nutzte, um die Aufmerksamkeit der Betrachter von den anspruchsvollen Techniken abzulenken, mit denen er seine großartigen Porträts malte. Kokoschkas Porträts sehen aus, als wären sie mit einem groben Skalpell gemalt worden, was im Grunde auch stimmte. So wie seine Tonbüste künden die Porträts kühn von den Techniken, die er nutzte, um seine Abbildungen innerer Wirklichkeit zu schaffen. Als überaus versierter Kunsthandwerker, der er ja ebenfalls war, trug er die Farbe zuweilen so dünn auf, dass sie kaum die Oberfläche bedeckte. An anderen Stellen ging er verschwenderisch mit ihr um und griff zum Spachtel, um eine Oberflächentextur zu erzeugen. Dabei entfernte er überschüssige Farbe mit einem Lappen, mit den Fingern oder einem flachen metallenen Instrument. Er presste die Hände gegen die bemalte Leinwand, um Abdrücke in der Farbe zu hinterlassen. Auf dieser Wechselwirkung von dünnen Farbschichten und Impasto, das häufig eine große Menge lichtundurchlässiger weißer Farbe enthält, beruht die subtile Komposition der Textur, die seine Gemälde kennzeichnet.
Kokoschka wandte diese Techniken nicht an, um seine Modelle realitätsnah abzubilden, sondern um Wesenszüge, Gefühle und Stimmungen der Menschen einzufangen. In diesem Prozess verriet er unbewusst seine eigenen ungezügelten, instinkthaften Triebe. Zuweilen ist die Farbe erkennbar aggressiv, anderswo dagegen zurückgenommen und ruhig. Somit erzählt der Farbauftrag von Kokoschkas eigenen unbewussten Regungen beim Schaffen des Bildes, die oft ganz unabhängig von der gemalten Person waren.
Um zu seinen Einblicken in die Persönlichkeit von Menschen zu gelangen, konzentrierte sich Kokoschka auf vier zentrale Ideen. Erstens ist das Malen von Porträts gut geeignet, um etwas über die Psyche einer anderen Person zu erfahren. Zweitens ist das Malen von Porträts anderer Leute auch eine Entdeckungsreise ins eigene Ich, ein Prozess, in dem der Künstler sein eigenes Wesen enthüllt. Kokoschka erkannte, dass der Königsweg zur Porträtmalerei und zur Seele eines anderen Menschen über das Verständnis der eigenen Psyche führte und, in einem weiteren Schritt, über das Anfertigen von Selbstporträts. Drittens können Gesten, insbesondere mit der Hand, Gefühle ausdrücken. Viertens beruhen die gegensätzlichen emotionalen Pole – Annäherung und Vermeidung – ausnahmslos auf Sexualität oder Aggression; und zudem zeigen sich solche instinktiven Triebe bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen.
KOKOSCHKAS ERSTES PORTRÄT WAR DAS des Schauspielers Ernst Reinhold (eigentlich Reinhold Hirsch), mit dem er eng befreundet war (Abb.
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