Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
gezeichnet.« 111
Die meisten frühen Porträts sind Brustbilder, die allgemein direkt unterhalb der Hände enden. Kokoschka war der Ansicht, dass Hände Gefühle ausdrücken können, und diese »sprechenden Hände« betonte er in seinen Porträts. Manchmal, wie im Blümner-Porträt, sind die Hände rot umrissen oder gefleckt. Blümners rechte Hand ist erhoben, als wollte er mit seiner Hand und seinem ganzen Körper eine wichtige Aussage machen; die Energie seiner Bewegung überträgt sich durch den Falten werfenden rechten Ärmel seiner Jacke nach oben in seinen Körper. Die rötliche Farbe überzieht Blümners Gesicht und hinterlässt Unheil verkündende hektische Flecken in einem sonst meisterlich gemalten bleichen Teint. Seine Gesichtszüge sind mit roten Linien skizziert, was Venen oder Arterien suggeriert. Der Blick der Betrachter wird auf Blümners Augen gelenkt, von denen eins größer ist als das andere. Er blickt den Betrachter nicht direkt an, sondern schaut abwesend in eine andere Richtung, als hielte er innere Zwiesprache mit sich selbst.
Abb. 9-11.
Oskar Kokoschka,
Rudolf Blümner (1910).
Öl auf Leinwand.
Die Farbe in dem Porträt ist dünn aufgetragen und trocken, verrieben und zerkratzt, was darauf hindeutet, dass Kokoschka eine Beeinträchtigung der Detailgenauigkeit in Kauf genommen hat, um seine eigene Erregung wiedergeben zu können. Kokoschkas Pinselstriche und das Zerkratzen der Farbe auf der Leinwand sind hier, wie auch in vielen anderen seiner Porträts, so augenfällig, dass man beim Betrachten des Bildes zur gleichen Zeit die Struktur der Bildoberfläche wie auch die dargestellte Person wahrnimmt. Diese Textur drückt weniger die unbewussten Gefühle des Modells aus als vielmehr die Reaktionen des Künstlers auf das Modell sowie das Bemühen des Künstlers, seine eigenen Emotionen einzufangen. Der dünne Farbauftrag und die Lichtdurchlässigkeit der Farbe schaffen eine unheimliche Stimmung von Unmittelbarkeit und Transparenz. Wie Kokoschka selbst behauptete, versuchte er, gewissermaßen ein gemaltes Röntgenbild zu erzeugen, das den Schädel des Modells entblößte.
Kokoschkas Fähigkeit, in die Seele eines Modells zu blicken, ist vor allem deshalb schwer zu beurteilen, weil er und Loos sein Talent dafür wiederholt betonten – ja sogar übertrieben bejubelten. In seiner typisch unbescheidenen Art schreibt Kokoschka in seiner Autobiografie: »Jedem meiner Modelle jener Zeit hätte ich auch ein Schicksal voraussagen können, so wie die Soziologen erkennen, daß die Umweltbedingungen den angeborenen Charakter verändern wie Boden und Klima das Wachstum sogar einer Topfpflanze.« 112 Von seiner Unbescheidenheit einmal abgesehen, verfügte Kokoschka aber wirklich über eine unheimliche Fähigkeit, in seinen Modellen nicht nur die Gegenwart, sondern auch Aspekte der Zukunft zu lesen. Diese Vorausschau zeigt sich in zwei bemerkenswerten Porträts jener Phase – denen von Auguste Forel und Ludwig Ritter von Janikowski.
Abb. 9-12.
Oskar Kokoschka,
Bildnis Auguste Forel (1910).
Öl auf Leinwand.
Forel war, wie Freud, ein international bekannter Psychiater. Er interessierte sich auch für vergleichende Anatomie und Verhaltensforschung und hatte unabhängig von Freud und Santiago Ramón y Cajal seine eigene Neuronentheorie aufgestellt. Im Frühjahr 1910 malte Kokoschka ein Porträt Forels (Abb. 9-12), das von Loos, der zu jener Zeit Kokoschkas gesamte Porträtmalerei betreute, in Auftrag gegeben worden war. Wie bei den anderen Porträts dieser Periode verrieb und zerkratzte Kokoschka die Farbe mit Pinsel und Hand und ließ das Modell so unmittelbar präsent wirken. Doch in diesem Gemälde sehen Forels rechte Hand und rechtes Auge ungewöhnlich aus und unterscheiden sich deutlich von der linken Hand und dem linken Auge. Er hält die rechte Hand gekrümmt und steckt den Daumen in den linken Jackenärmel, als benötigte die Hand Halt. Das rechte Auge hat, ganz anders als das linke, einen starren Blick, als sollte angedeutet werden – so empfanden es auch Forel und seine Familie –, dass der Mann einen Schlaganfall in der linken Hirnhälfte erlitten habe.
Forel hatte die Wahl, das fertige Gemälde anzunehmen oder zurückzuweisen. Nachdem er das Porträt gesehen hatte, lehnte er es ab. Kokoschka gestand vertraulich ein, dass er Forel wie nach einem Schlaganfall dargestellt habe. Zwei Jahre später erlitt Forel, während er sich über sein Mikroskop beugte, einen Schlaganfall, der sein Gesicht
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