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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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13-6.
André Brouillet, Charcot à la Salpêtrière (1887). Öl auf Leinwand.
    TEILWEISE INSPIRIERT VON DIESEN künstlerischen Experimenten mit figurativen und emotionalen Urformen stellten Hirnforscher bald zentrale Fragen, weil sie die biologischen Grundlagen für den Anteil des Betrachters ergründen wollten. Als Erstes fragten sie: Wie nimmt das Gehirn, die Kreativitätsmaschine schlechthin, Kunst wahr, und wie selektiert und repräsentiert es figurative und nicht-figurative Urformen, die Grundbausteine der visuellen Wahrnehmung? Als Nächstes fragten sie: Wie reagiert das Gehirn der Betrachter emotional auf Kunst, und wie selektiert und repräsentiert es emotionale Urformen?
    Die folgenden fünf Kapitel legen dar, welche Kenntnisse über visuelle Wahrnehmung die Hirnforschung bisher gewinnen konnte. Der Prozess der visuellen Wahrnehmung beginnt in der Netzhaut des Auges, einem informationsverarbeitenden System, das die Form von Objekten und Gesichtern dekonstruiert und die entscheidenden Komponenten dieser Bilder in einen neuronalen Code umwandelt. Dieser Code entspricht einem Muster von Aktionspotenzialen im Gehirn. Die neuronalen Codes werden darauf in immer höheren für das Sehen zuständigen Hirnregionen weiterverarbeitet. Die Untersuchung dieser Regionen offenbart die Prinzipien, die der Wahrnehmung von Gesichtern, Händen und Körpern zugrunde liegen. Während die unteren Ebenen der Informationsverarbeitung Gestaltprinzipien folgen, stützen sich die höheren Regionen auch auf Top-down-Verarbeitung, unbewusste Schlussfolgerungen (basierend auf der Prüfung von Hypothesen) und auf das Gedächtnis, um visuelle Wahrnehmungsobjekte einzuordnen und zu interpretieren. Im Anschluss an diese fünf Kapitel begeben wir uns auf die Suche nach emotionalen Urformen und den biologischen Mechanismen der Empathie und Kreativität, die den Anteil der Betrachter mitbestimmen.

TEIL DREI
    Die Biologie der visuellen Reaktion
auf Kunst

KAPITEL 14
    DIE VERARBEITUNG VISUELLER BILDER DURCH DAS GEHIRN
    D ie Untersuchungen, die Ernst Kris und Ernst Gombrich über Mehrdeutigkeit und den Anteil des Betrachters anstellten, führten sie zu dem Schluss: Das Gehirn ist kreativ – es erzeugt innere Repräsentationen der Dinge, die wir, als Künstler oder als Rezipienten von Kunst, in der Welt um uns erblicken. Zudem behaupteten sie, wir seien alle geborene »Psychologen«, weil unser Gehirn auch innere Repräsentationen von dem erzeuge, was in den Köpfen anderer Personen vor sich gehe – von ihren Wahrnehmungen, Motiven, Trieben und Gefühlen. Diese Ideen trugen maßgeblich zur Entstehung einer modernen Kognitionspsychologie der Kunst bei.
    Kris und Gombrich war aber auch klar, dass ihre Ideen auf komplexen Einsichten und Schlussfolgerungen beruhten, die sich nicht direkt untersuchen ließen und einer objektiven Analyse daher nicht zugänglich waren. Um die inneren Repräsentationen unmittelbar zu analysieren, also in die Black Box des Gehirns zu spähen und zu sehen, wie sich aus der Dekonstruktion der Form figurative Urformen – die Bausteine der Wahrnehmung – entwickeln, musste sich die Kognitionspsychologie mit der Hirnbiologie zusammentun. In diesem und den beiden folgenden Kapiteln schauen wir uns an, wie die Hirnbiologen mit der Erforschung der visuellen Wahrnehmung begannen. Wie wir sehen werden, hängt sowohl die Wahrnehmung von Kunst durch die Betrachter als auch ihre emotionale Reaktion darauf völlig von der Aktivität der Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen ab. Doch bevor wir die neuronalen Mechanismen erkunden können, die unseren visuellen und emotionalen Prozessen zugrunde liegen, brauchen wir einige Grundkenntnisse über die Gesamtorganisation des zentralen Nervensystems.

Abb. 14-1.
Das zentrale Nervensystem, das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht, ist bilateral symmetrisch. Das Rückenmark empfängt über Bündel langer Axone, oder peripherer Nerven, Sinnesreize von der Haut und sendet über die Axone der Motoneuronen motorische Befehle an die Muskeln. Diese Sinnesrezeptoren und motorischen Axone sind Teil des peripheren Nervensystems.

DAS ZENTRALE NERVENSYSTEM BESTEHT aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Wie der Körper insgesamt hat es eine linke und eine rechte Seite, die im Wesentlichen symmetrisch sind (Abb. 14-1). Vom Rückenmark geht der Impuls für einfaches Reflexverhalten aus. Die Wirkungsweise dieses relativ simplen Mechanismus verdeutlicht eine zentrale Funktion des zentralen

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