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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Aggressionen und versuchten sie in eine einfache Bildsprache zu übersetzen. Dabei wollten die Künstler emotionale Urformen abbilden; diese Elemente rufen unsere gefühlsmäßigen Reaktionen auf Kunst hervor – und in einem weiteren Schritt unsere Wahrnehmung von Gefühlen anderer Menschen, unsere Einfühlung in sie sowie unsere Fähigkeit, ihre bewussten und unbewussten geistigen Zustände zu erfassen.
    Die Darstellung von Gefühlen ist seit jeher eines der vordringlichsten Ziele von Künstlern gewesen. Leonardo, Rembrandt, El Greco, Caravaggio und später auch Messerschmidt üben alle eine zeitlose, weltweit wirksame Anziehungskraft aus, weil sie universelle Gefühle durch realistische Abbildungen spezifischer Personen ausdrücken. Viele Künstler des 20. Jahrhunderts schlugen bei der Darstellung von Emotionen dagegen andere Wege ein.
    Zuerst Vincent van Gogh und Edvard Munch, dann Henri Matisse, die französischen Fauvisten und ihre Zeitgenossen, die Expressionisten Österreichs und Deutschlands, begannen sich ausdrücklich und eingehend mit den Gestaltungsmöglichkeiten von Form und Farbe auseinanderzusetzen, um mit ihrer Hilfe unbewusste Emotionen und bewusste Gefühle sichtbar zu machen. So wie sich die Impressionisten und Postimpressionisten, etwa Georges Seurat und van Gogh, wissenschaftliche Erkenntnisse über das Mischen von Farben zunutze machten, um die Essenz des natürlichen Lichts einzufangen, so nutzten die Expressionisten ihnen unmittelbar zugängliche wissenschaftliche Erkenntnisse aus Medizin und Psychologie, um das Unbewusste besser zu verstehen.
    IN SEINER GROSSARTIGEN EINFÜHRUNG in die Kunstgeschichte, Die Geschichte der Kunst , verfolgt Ernst Gombrich die Entwicklung der abendländischen Kunst über drei Phasen hinweg. In der ersten Phase waren die Künstler mit den Regeln der Perspektive oder des Farbenmischens noch nicht vertraut; daher malten sie, was sie kannten . In der zweiten Phase beherrschten die Künstler die Prinzipien der Perspektive und Farbe; nun konnten sie malen, was sie tatsächlich sahen . Diese zwei Phasen erstreckten sich über eine Zeitspanne von 30000 Jahren, von den Malereien in der Chauvet-Höhle bis zu den naturalistischen Landschaften britischer Künstler im 19. Jahrhundert. Während dieser Phasen war die Kunst – trotz einiger Umwege, Abstecher und Rückbesinnungen – bestrebt, die Außenwelt immer realistischer, dreidimensionaler abzubilden. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts brachte das Aufkommen der Fotografie, mit ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, die Wirklichkeit einzufangen, diese Entwicklung zum Stillstand. Die Malerei verlor ihre einzigartige ökologische Nische in der Welt der künstlerischen Abbildung, wie Gombrich sagte, und »die Suche nach alternativen Nischen begann«. 135

    Abb. 13-1.
Stark vereinfachte Darstellung der beiden Typen von Experimenten, die die Kunst seit dem Impressionismus kennzeichnen.
    Der Impressionismus leistete Pionierarbeit, indem er versuchte, die flüchtige, atmosphärische Wahrnehmung des Lichts in der Natur einzufangen, was für die Fotografie nicht so einfach war. Auf diese Weise lenkte der Impressionismus den Blick der Betrachter ausdrücklich vom Realen zum Imaginären. Späteren Künstlern missfiel die exzessive Beschäftigung des Impressionismus mit der Vergänglichkeit und der äußeren Erscheinung von Objekten. Weil diese Postimpressionisten erkannten, dass Fotografien die Wirklichkeit besser wiederzugeben vermochten als sie selbst, versuchten sie, Ausdrucksmöglichkeiten jenseits naturalistischer Abbildungen zu finden. Ihre Suche führte zu zwei breit angelegten, teilweise einander überlappenden Formen von Experimenten, die den Betrachtern Erfahrungen bieten sollten, die außerhalb der Möglichkeiten der Fotografie lagen. Das eine Experiment, sichtbar in den Gemälden von Paul Cézanne, der postimpressionistischen Gruppe der Nabis (Maurice Denis, Édouard Vuillard, Pierre Bonnard) und anderen, versuchte die visuelle Wahrnehmung zu dekonstruieren und in ihr neue Dimensionen zu erkunden. Das andere Experiment, mit den Vertretern van Gogh und Munch, versuchte sich in der Dekonstruktion und Erkundung emotionaler Erfahrungen (Abb. 13-1). Zur gleichen Zeit, zu der diese Künstler Form und Emotion dekonstruierten, erlebte auch die Ikonografie, die Verwendung von Symbolen, eine künstlerische Wandlung.
    Cézanne hörte auf, Perspektive realistisch darzustellen. Stattdessen experimentierte er damit, die räumliche Tiefe in

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