Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
seinen Gemälden zu reduzieren, wie bei der Gebirgslandschaft von Montagne Sainte-Victoire in der Nähe seines Hauses in der Provence (Abb. 13-2). Dazu sagte der Kunsthistoriker Fritz Novotny: »Das Leben der Perspektive ist geschwunden, die Perspektive im alten Sinn ist tot.« 136 Zudem glaubte Cézanne, dass sich alle natürlichen Formen auf drei figurative Urformen reduzieren ließen – auf Kubus, Kegel und Kugel. Seiner Ansicht nach waren die figurativen Urformen die Grundelemente oder Bausteine unserer Wahrnehmung von komplexen Formen – seien es Steine und Bäume oder menschliche Gesichter. Sie bildeten den Schlüssel, um unseren Blick auf die Natur zu beschreiben.
Abb. 13-2.
Paul Cézanne, Montagne Sainte-Victoire (1904–1906).
Öl auf Leinwand.
Cézannes Experimente mit der Perspektive und seine Vorstellung, alles, was wir in der Natur sehen, lasse sich in drei feste Körper zerlegen, mündeten in die Entwicklung des Kubismus durch Pablo Picasso und Georges Braque (Abb. 13-3). Von 1905 bis 1910 vereinfachten diese beiden Künstler die Perspektive und die Formen der Natur; sie dekonstruierten ihre Objekte, um weniger ihre äußere Erscheinung als vielmehr ihre Essenz wiederzugeben. Indem sie das Wesentliche aus der Natur extrahierten und es schnörkellos darstellten, konnten sie zeigen, dass auf der Leinwand Kunst unabhängig von Natur und Zeit existieren kann. Bald folgte ein noch radikalerer Abstraktionismus, etwa in den Werken von Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian. Die Abstraktion von der dreidimensionalen Perspektive entwickelte sich später in den Werken des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti. Er schuf flache Skulpturen von Personen, die so dünn waren wie eine Messerklinge.
135 Gombrich, E. H., Kokoschka in His Time , London 1986.
136 Novotny, F., Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive , Wien/München 1938/1970, S. 102.
Abb. 13-3.
Georges Braque, Le Sacré-Cœur vu de l’Atelier de l’Artiste (1910).
Öl auf Leinwand.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert startete Kandinsky seine Laufbahn als figurativer Maler, begann aber schon bald, die Farben kühn und expressiv aufzutragen; mit ihnen wollte er nicht nur wie van Gogh, Munch und Oskar Kokoschka Stimmungen ausdrücken, sondern auch Gegenstände und Ideen. Um 1910 wurden seine Gemälde bereits geometrischer und abstrakter, und zum Schluss zeigten seine Werke kaum noch Spuren figürlicher Darstellung.
Abb. 13-4.
Piet Mondrian, Baumstudie I: Vorstudie zu Tableau 2/Komposition Nr. VII (1912).
Kohle auf Papier.
© 2011 Mondrian/Holtzman Trust c/o HCR International USA
Auch Mondrian war zunächst ein figurativer Maler, fing aber bald an, seine Bilder auf der Suche nach universellen Formelementen zu dekonstruieren ( Baumstudie I , 1912, und Pier und Ozean 5 [Meer und Sternenhimmel] , 1915) (Abb. 13-4, 13-5). Von Cézannes Ideen inspiriert, reduzierte Mondrian Kubus, Kegel und Kugel noch weiter und gestaltete seine Bilder mit geraden Linien und Farbe. Auf diese Weise trug er zur Entwicklung einer neuen Sprache der Kunst bei, die auf nicht-figurativen Urformen beruhte – auf geometrischen Formen und Farben, die ihre eigene Bedeutung haben, ohne jeden Bezug auf irgendwelche Formen in der Natur. Malewitsch und die Konstruktivisten schufen ebenfalls eine rein abstrakte, nicht-figurative Kunst. Diese Künstler vertraten die Auffassung, dass Malerei, genau wie Musik, reiner Ausdruck sein könne. Im Idealfall erzeuge abstrakte Kunst eine Mehrdeutigkeit, die vielleicht noch stärker als die Mehrdeutigkeit in der figurativen Kunst kreative geistige Prozesse voraussetze.
Abb. 13-5.
Piet Mondrian, Pier und Ozean 5 (Meer und Sternenhimmel) (1915).
Kohle, Tusche und Gouache auf Papier.
© 2012 Mondrian/Holtzman Trust c/o HCR International USA
Zur gleichen Zeit wandelte sich die Verwendung von Symbolen in der Kunst. In der figurativen Kunst entstand eine neue Ikonografie, die nicht auf einer Dekonstruktion existierender Symbole beruhte, sondern auf der neuen Sprache der Moderne. Diese Wandlung offenbarte sich deutlich in »Wien 1900«. Wie wir gesehen haben, verwendete Gustav Klimt aufgrund seiner biologischen Kenntnisse ikonische Zeichen; Kokoschka und Schiele nutzten Hände und andere Körperteile als Symbole. Einige dieser ikonischen Zeichen, wie die Hände, für die Abbildungen von Jean-Martin Charcots Psychiatriepatienten als Vorbild dienten, sollten inneren Aufruhr oder Wahnsinn darstellen (Abb. 13-6).
Abb.
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