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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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Kunstwahrnehmung bei. Stäbchen sind jedoch sehr viel lichtempfindlicher als Zapfen und verstärken Lichtsignale viel intensiver als diese.
    Nur die Stäbchen sind für das Nachtsehen zuständig. Dies können Sie in einer klaren Nacht überprüfen, indem Sie einen Stern ansehen, am besten einen, der nicht sehr hell ist. Sie haben möglicherweise Probleme, den Stern zu erkennen, wenn Sie direkt daraufschauen, weil die Zapfen in Ihrer Sehgrube nicht auf niedrige Lichtintensitäten reagieren. Wenn Sie aber den Kopf etwas zur Seite drehen und aus dem Augenwinkel zu dem Stern hinsehen, werden die Stäbchen in der Peripherie der Netzhaut aktiviert, und Sie können den Stern deutlich wahrnehmen.
    DIE DICHT GEDRÄNGTEN ZAPFEN in der Sehgrube nehmen die feinen Einzelheiten eines Bildes wahr, aber nicht seine gröberen, generellen Komponenten; das übernehmen die weiter auseinanderliegenden Zapfen in der Peripherie der Netzhaut. Demnach verarbeitet das Gehirn visuelle Informationen auf zweierlei Weise – bei einer präzisen Detailanalyse und bei einer groben, ganzheitlichen Analyse. Diejenigen Elemente eines visuellen Bildes, die wir zur Identifikation eines bestimmten Gesichtes heranziehen, wie die Größe und Form der Nase, werden von den fovealen Zapfen verarbeitet, die für feine Abstufungen und hohe Auflösung empfindlich sind. Dagegen werden diejenigen Elemente des Bildes, die wir heranziehen, um den Gefühlsausdruck des Gesichtes zu bestimmen, von den peripheren Zapfen verarbeitet, die auf gröbere, eher ganzheitliche (Gestalt-)Elemente reagieren.
    Margaret Livingstone hat sich diesen Unterschied in einer interessanten Analyse von Leonardo da Vincis rätselhafter Mona Lisa zunutze gemacht (Abb. 15-7). Wie das Aufsehen beweist, das dieses Gemälde bei Kunsthistorikern wie auch Psychoanalytikern erregt hat, gilt es gemeinhin als eines der großen Meisterwerke der abendländischen Kunst und als eines der besten Beispiele für Mehrdeutigkeit in der Malerei. Es symbolisierte das Renaissance-Ideal vom geheimnisvollen Nimbus der Frau, die Verkörperung des »Ewig-Weiblichen«, wie Goethe sagte. Zu den ewigen Zaubern und auch den ewigen Rätseln dieses außergewöhnlichen Porträts gehört der Ausdruck jener Frau. Welches Gefühl stellt sie zur Schau? Im einen Moment scheint sie zu lächeln und zu strahlen, doch schon im nächsten wehmütig oder gar traurig zu sein. Wie wird diese Ambivalenz des emotionalen Ausdrucks erreicht?

Abb. 15-7.
Leonardo da Vinci,
Mona Lisa (um 1503–1506).
Öl auf Holz.

Ernst Kris behauptete, unsere unterschiedlichen Deutungen zu verschiedenen Zeiten kämen zustande, weil die Mehrdeutigkeit des Gesichtsausdrucks es uns erlaube, ihn gemäß unseren eigenen Stimmungen zu interpretieren. Eine traditionellere Erklärung lautet, Leonardo habe eine besondere künstlerische Technik angewandt, die in der Frührenaissance entwickelt wurde – das Sfumato oder Verwischen, mit dem er die subtilen Schatten um den Mund erzeugte, die so charakteristisch für dieses Gemälde sind. Bei diesem Verfahren legt man zuerst eine lichtdurchlässige dunkle Farbe auf, übermalt diese dann mit ein wenig lichtundurchlässigem Weiß und verwischt die scharfen Konturen (wie hier die Mundwinkel) mit den Fingerspitzen statt mit einem Pinsel, was sie weicher erscheinen lässt.
    Livingstone hat eine andere Erklärung für den wechselnden Ausdruck des Porträts geliefert. Für sie ergibt er sich daraus, dass Leonardo zwei widersprüchliche Arten von Informationen vermittelt habe. Wenn wir auf den Mund der Mona Lisa schauen, entdecken wir ihr berühmtes geheimnisvolles Lächeln nicht unmittelbar – mit unseren fovealen Zapfen fokussieren wir die Details, aber diese geben kein Lächeln preis, obwohl es um die Mundwinkel zu spielen scheint. Doch wenn wir, wie bei dem fernen Stern, die Seiten ihres Gesichtes oder ihre Augen betrachten, ist das Lächeln deutlich zu sehen. Dies kommt zustande, weil das Sehen mit den peripheren Zapfen, die Einzelheiten nicht gut erkennen können, eine ganzheitliche Analyse ermöglicht, mit der wir die weichzeichnerischen Effekte der Sfumato-Technik an ihren Lippen und in ihren Mund- und Augenwinkeln wahrnehmen (Abb. 15-8).

    Abb. 15-8.
Peripheres Sehen lässt die Konturen verschwimmen.
Zu beachten ist, dass Mona Lisas Mundwinkel bei zentraler Fixierung viel schwächer aufwärts gebogen zu sein scheint als bei peripherem Sehen.
    Livingstone nutzte diese Entdeckung, um zu verdeutlichen, dass wir mit

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