Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
peripherem Sehen Dinge wahrnehmen können – wie Mona Lisas Lächeln –, die wir bei zentralem Sehen nicht erkennen. Da Gesichtsausdrücke tiefe Gesichtsmuskeln beanspruchen und Fettgewebe unter der Haut Aktivitätsveränderungen der tiefen Muskulatur verwischen kann, ist das periphere Sehen möglicherweise oft besser als foveales Sehen geeignet, um die Emotionen in einem Gesicht richtig zu deuten. Davon abgesehen können wir ein Gesicht schon an seinen Rändern, sofern sie vom fovealen Sehen erfasst werden, problemlos als Gesicht erkennen.
DIE WISSENSCHAFTLICHE ERFORSCHUNG der visuellen Wahrnehmung begann mit Stephen Kuffler. Kuffler (Abb. 15-9) kam 1913 in Ungarn zur Welt, das zu jener Zeit noch zum Reich Österreich-Ungarn gehörte. 1923 ging er nach Wien auf ein Jesuiteninternat und trat 1932 in die Wiener Medizinische Schule ein, wo er sich auf Pathologie spezialisierte und 1937 promovierte. Kuffler war Mitglied einer Anti-Nazi-Studentengruppe, und seine Großmutter väterlicherseits war Jüdin. Als Hitler 1938 in Wien einmarschierte, wusste er, dass sein Leben in Gefahr war. Er floh zuerst nach Ungarn, dann nach England und von dort nach Australien. 1945 siedelte er in die Vereinigten Staaten über und blieb in den darauffolgenden Jahren am Wilmer Eye Institute der Johns Hopkins University. 1959 wechselte er zur Harvard Medical School, wo er 1967 das erste neurobiologische Institut des Staates gründete; dieses Institut vereinte Physiologie, Biochemie und Anatomie unter dem Dach der Hirnforschung.
Abb. 15-9.
Stephen Kuffler (1913–1980).
Kuffler, der an der Wiener Medizinischen Schule studierte, untersuchte als einer der ersten Wissenschaftler, wie Säugetiere visuelle Reize in der Netzhaut verarbeiten. Dieses Foto zeigt ihn bei einem Strandurlaub in Punta Banda, Baja California, Mexiko.
In seiner ersten Zeit an der Johns Hopkins University untersuchte Kuffler, wie Nervenzellen im Gehirn einfacher wirbelloser Tiere, zum Beispiel Krebse, miteinander kommunizieren. Aus Sigmund Freuds Arbeiten über Wirbellose von 1884 wussten Wissenschaftler bereits, dass sich Neuronen in allen Gehirnen, ob bei Wirbeltieren oder Wirbellosen, sehr ähnlich sind.
Abb. 15-10
Neuronen weisen typischerweise drei Bereiche auf – einen Zellkörper, ein Axon und zahlreiche Dendriten (Abb. 15-10). Das lange, schmale Axon geht vom einen Ende des Zellkörpers aus und transportiert Informationen, oft über eine beträchtliche Entfernung, bis zu einem Punkt, wo ein Kontakt mit den Dendriten einer Zielzelle oder Empfängerzelle hergestellt wird. Die dicht verzweigten Dendriten, die allgemein vom anderen Ende des Zellkörpers, auf der dem Axon gegenüberliegenden Seite, ausgehen, empfangen Informationen aus anderen Zellen. Kuffler untersuchte den Prozess der synaptischen Kommunikation , den Transfer der Information von einem Neuron zum anderen, der an der Synapse erfolgt, dem Kontaktpunkt zwischen dem Axon der Senderzelle und den Dendriten der Empfängerzelle.
Wie wir gesehen haben, generieren Nervenzellen schnelle Alles-oder-nichts-Aktionspotenziale. Nachdem das elektrische Signal initiiert wurde, wird es zuverlässig über die gesamte Länge des Axons bis zu dessen Endpunkt transportiert, wo eine Synapse mit der Empfängerzelle gebildet wird. Die Stärke des Signals bleibt unverändert, weil das Aktionspotenzial auf dem Weg entlang des Axons kontinuierlich regeneriert wird. Das Empfängerneuron erhält auch Signale von anderen Nervenzellen. Diese Zellen können erregende (exzitatorische) Neuronen sein, die die Zahl der von der Empfängerzelle gefeuerten Aktionspotenziale erhöhen, oder hemmende (inhibitorische) Neuronen, die das Feuern eindämmen. Je länger die erregenden Neuronen aktiv sind, desto länger ist auch das Empfängerneuron aktiv.
Kuffler erkannte, dass die Art und Weise, in der erregende und hemmende Neuronen interagieren, um die Muster zu steuern, in denen ein einzelnes Empfängerneuron feuert, wie in einem Mikrokosmos die Organisationslogik des Gehirns widerspiegelt – die Nervenzellen im Gehirn berechnen die Gesamtheit der erregenden und hemmenden Informationen aus verschiedenen Quellen und entscheiden aufgrund dieser Berechnung, ob sie die Informationen an höhere Hirnregionen weiterleiten oder nicht. Der britische Physiologe Charles Sherrington, der 1932 für seine bahnbrechende Arbeit über die Kommunikation der Nervenzellen im Rückenmark den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin erhielt, bezeichnete diese
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