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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Kandel
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rezeptiven Felder jedes einzelnen Neurons abdeckt. Kufflers Entdeckung lieferte auch eine biologische Begründung für das verwandte Prinzip, dass das Gehirn sich nicht verändernde Muster ignoriert, aber selektiv und dramatisch auf Kontraste reagiert. Dies verdeutlicht Abb. 15-14. Die beiden grauen Ringe besitzen denselben Farbton, doch einer erscheint heller als der andere, weil die unterschiedlichen Hintergründe verschiedene Kontraste erzeugen. Und schließlich erklärt die Zentrum-Umfeld-Organisation bei den Ganglienzellen der Netzhaut, warum das Sehsystem so empfindlich reagiert, wenn Licht mit Unterbrechungen auf die Netzhaut fällt, und warum Neuronen stärker auf abrupte Veränderungen in der Leuchtdichte, oder Helligkeit, eines Bildes reagieren als auf allmähliche. Auf diese Weise fand Kuffler, wie Gombrich annähernd vorhergesagt hatte, heraus, dass nur sehr spezifische visuelle Reize sozusagen die Schlösser der neuronalen Tore zum Sehen knacken.

    Abb. 15-14.
Die äußere Erscheinung eines Objekts hängt im Wesentlichen vom Kontrast zwischen dem Objekt und seinem Hintergrund ab. Die zwei grauen Ringe sind von identischer Helligkeit, erscheinen aber verschieden – der linke sieht heller aus –, weil ihre Hintergründe unterschiedliche Kontraste erzeugen.
    DIE ENTWICKLUNG UNSERES SEHSYSTEMS richtet sich nach den Erfordernissen der natürlichen Welt. Tatsächlich illustrieren die von Kuffler untersuchten ersten Phasen des Sehprozesses das Wirken der Darwin’schen Evolution: Die Struktur des menschlichen Auges hat sich im Laufe der Zeit so entwickelt, dass sie die Informationen, die uns unsere Umgebung liefert, optimal verarbeitet. Überdies wird unsere größte Sehschärfe, die höchste Auflösung, zugleich vom Auflösungsvermögen des Auges und dem Abstand der Zapfen in der Sehgrube bestimmt. Diese Zapfen senden Informationen an die Ganglienzellen der Netzhaut, deren rezeptive Felder so geformt sind, dass sie die wichtigste Information über ein Bild extrahieren und Redundanz minimieren, damit die Netzhaut nichts von ihrer Signalenergie verschwendet. Das Zentrum von Ganglienzellen der Netzhaut ist in seiner Größe auch perfekt auf das Umfeld ihrer rezeptiven Felder abgestimmt, um die informativen Elemente eines Bildes identifizieren und redundante ignorieren zu können.
    Außerdem zeigte Kufflers Arbeit, dass die Netzhaut Bilder nicht passiv weiterleitet. Sie transformiert und verschlüsselt ein Bild aus der sichtbaren Welt aktiv in ein Muster von Aktionspotenzialen; dabei stützt sie sich auf eine riesige Anzahl von Fotorezeptoren und anderen Nervenzellen, die alle gleichzeitig tätig sind – eine Parallelverarbeitung mit einer beeindruckenden Rechenleistung. Dieses Aktivitätsmuster wird dann zum seitlichen Kniehöcker des Thalamus und von dort zur Großhirnrinde transportiert, wo es weiter dekonstruiert und schließlich zur inneren Repräsentation eines Bildes umgeformt wird. Auf diese Weise ebnete Kufflers Entdeckung, dass Kontraste für die Signale der Netzhaut von außerordentlicher Bedeutung sind, den Weg zu den noch erstaunlicheren Erkenntnissen über das Sehen, die Untersuchungen der Sehrinde erbringen sollten. Diesen wenden wir uns jetzt zu.

KAPITEL 16
    DIE REKONSTRUKTION DER WELT, DIE WIR SEHEN: SEHEN IST INFORMATIONSVERARBEITUNG
    O bwohl die Netzhaut ein äußerst ausgeklügeltes System ist, kann sie überflüssige Details nicht von den konstanten, wesentlichen Merkmalen von Objekten, Szenen und Gesichtern unterscheiden. Das Sortieren visueller Informationen, wobei die zur Erkennung erforderlichen zentralen Merkmale beibehalten und unwesentliche Einzelheiten ausgesondert werden, erfolgt großenteils in den Bereichen der Großhirnrinde, die für das Sehen zuständig sind. Im Laufe ihrer über zwanzigjährigen Zusammenarbeit setzten David Hubel und Torsten Wiesel Stephen Kufflers Analyse der ersten Phasen des Sehvorgangs in den besagten Hirnrindenregionen fort und bescherten uns damit außerordentliche neue Erkenntnisse über die Art und Weise, wie die dort befindlichen Relais visuelle Informationen verarbeiten. Ihre Arbeit und die von Semir Zeki am University College London verschafften uns einen ersten Eindruck davon, wie das Gehirn die Linien und Konturen konstruiert, die zur Objekterkennung notwendig sind.
    Zeki war sich der entscheidenden Bedeutung bewusst, die die Linie für die Pioniere der abstrakten Kunst hatte, zu denen Paul Cézanne, Kasimir Malewitsch und die Kubisten

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