Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Neben seinen vielen anderen Talenten beherrschte Klimt meisterlich die Prinzipien der subjektiven Konturen, mit denen die Betrachter die Konturen eines Bildes vervollständigen. Besonders augenfällig ist dies in seiner goldenen Phase, in der er die Körperumrisse in aller Regel hinter verschwenderischer goldener Ornamentik verbarg und die Gestaltung dieser Konturen der Fantasie der Betrachter überließ. Zuweilen spielte er sogar mit der Doppeldeutigkeit des Verdeckens. In seinem Werk Judith (Abb. 8-27) haben wir gesehen, wie Judiths goldener Halsreif ihren Kopf vom Körper trennt. Natürlich stellen wir uns die Linien ihres Halses vor, obwohl im Bild keine zu sehen sind, weil unser Gehirn mithilfe des Gestaltgesetzes der Geschlossenheit, wie beim Kanizsa-Dreieck, den fehlenden Umriss ersetzt.
HUBEL UND WIESEL ZEIGTEN IN IHREN Tierversuchen außerdem, dass die Berechnungen des Sehsystems hierarchischer Natur sind – beim Eintritt ins Auge ist ein Bild noch unbearbeitet und erst in den oberen Bereichen des Sehsystems erfolgt die Konstruktion des von uns bewusst wahrgenommenen Bildes. Darüber hinaus fanden sie und Zeki heraus, dass Neuronen in der primären Sehrinde, vor allem aber die in den benachbarten beiden Hirnrindenbereichen V2 und V3, auf eine virtuelle Linie genauso effektiv wie auf eine wirkliche Linie reagieren. Demzufolge können diese Neuronen Konturen vervollständigen; diese Fähigkeit erklärt das Phänomen, auf dem das oben erwähnte Gestaltgesetz der Geschlossenheit beruht.
Laut Zeki ist das in Kapitel 12 beschriebene Kanizsa-Dreieck (Abb. 12-5) ein Beispiel für dieses Gesetz – das Gehirn versucht, ein unvollständiges oder mehrdeutiges Bild zu vervollständigen und so interpretierbar zu machen. Seine späteren Experimente mit bildgebenden Verfahren zeigten, dass bei Personen, die auf imaginäre Linien blicken, Neuronen in der primären Sehrinde sowie in den Bereichen V2 und V3 aktiviert werden, wie auch Neuronen in einem Areal der Hirnrinde, der für die Objekterkennung von zentraler Bedeutung ist.
Vermutlich vervollständigt das Gehirn Linien, weil uns die Natur häufig verdeckte Konturen präsentiert, die wir ergänzen müssen, um ein Bild korrekt wahrzunehmen – beispielsweise wenn jemand um eine Hausecke biegt, der wir uns nähern, oder wenn ein Löwe hinter einem Busch hervorkommt. Richard Gregory meint dazu: »Unser Gehirn erzeugt vieles von dem, was wir sehen, indem es hinzufügt, was da sein ›sollte‹. Dass das Gehirn Vermutungen anstellt, bemerken wir erst, wenn es falsch rät und eindeutig ein Fantasiegebilde erschafft.« 141
Ein wesentliches Merkmal der Objekterkennung ist, wie wir gesehen haben, die Trennung einer Figur von ihrem Hintergrund. Die Figur-Grund-Trennung erfolgt kontinuierlich und dynamisch, weil die gleichen Elemente, die in einem bestimmten Kontext als Teile der Figur dienen, in einem anderen Kontext zum Hintergrund gehören können. Einige Zellen im Bereich V2 der Sehrinde, die auf virtuelle Linien wie die in der Rubin’schen Vase reagieren, reagieren auch auf die Ränder von Figuren – ihre Begrenzungen. Aber um eine Figur von ihrem Hintergrund zu unterscheiden, genügt es nicht, einfach nur Grenzen zu lokalisieren. Man muss aus dem Kontext des Bildes auch erschließen, zu welcher der beiden Regionen, die einer Grenze anliegen, diese Grenze gehört. Das Problem der Zugehörigkeit von Grenzen springt besonders beim Figur-Grund-Wechsel ins Auge, wie bei der Rubin’schen Vase.
Mit bildgebenden Verfahren haben Zeki und seine Mitarbeiter untersucht, was im Gehirn von Personen vor sich geht, die solche Figur-Grund-Wechsel vornehmen. Ihre Experimente zeigen, dass sich die Hirnaktivität beim Betrachten der Rubin’schen Vase von den Gesichtserkennungsarealen im unteren temporalen Cortex zu dem Areal im parietalen Cortex verlagert, das an der Objekterkennung beteiligt ist. Außerdem wird jeder Wechsel von einer vorübergehenden Eindämmung der Aktivität in der primären Sehrinde begleitet. Die Aktivität der primären Sehrinde ist für die Wahrnehmung eines Bildes unerlässlich, ganz gleich, ob es sich um eine Vase oder zwei Gesichter handelt, aber damit ein Wahrnehmungswechsel erfolgen kann, muss diese Aktivität unterbrochen werden. Wenn sich schließlich der Wechsel von einem Wahrnehmungsobjekt zum anderen vollzieht, wird auch der frontoparietale Cortex aktiv. Zeki und seine Mitarbeiter vermuten, dass diese Aktivität mit einer Top-down-Verarbeitung
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