Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
gehörten. Die Künstler erfassten intuitiv, dass Linien im Gehirn der Betrachter intensiv bearbeitet werden, um den Eindruck von Kanten zu erzeugen. Die unterschiedlichen Rollen von Linie und Kontur beim Abbilden von Umrissen und Rändern in der Kunst werden deutlich, wenn wir zwei Gemälde von Gustav Klimt und Oskar Kokoschka mit zwei Zeichnungen von Klimt und Egon Schiele vergleichen.
Abb. 16-1.
Gustav Klimt, Adele Bloch-Bauer II (1912).
Öl auf Leinwand.
In Gemälden erkennen wir ein Objekt oder ein Bild leicht an seinen Rändern. Diese Ränder werden jedoch nicht immer ausdrücklich gemalt – häufig werden sie durch eine gemeinsame Grenze erzeugt. Vergleichen wir einmal Klimts späteres Porträt von Adele Bloch-Bauer mit Kokoschkas Porträt von Auguste Forel (Abb. 16-1 und 16-2). Klimt hebt Adeles Gesicht und Hände durch dramatische Farbwertunterschiede und relativ saubere Umrisse vom Hintergrund ab. Aufgrund des Farbübergangs zwischen einem helleren und einem dunkleren Bereich erkennen wir, wo ihr Gesicht endet und ihr Haar beginnt. In Kombination mit dem Farbwertkontrast betont die einfache Konturlinie die Flächigkeit des Bildes und unterstreicht die beständigen, unsterblichen Eigenschaften des Modells. Genau umgekehrt verfährt Kokoschka mit seinem Gemälde von Forel. Er verwendet nur geringe Farbwertunterschiede im Gesicht, doch starke Konturlinien, um die Umrisse von Forels Kopf zu formen, ja zu modellieren. Damit hebt er den Kopf vom Hintergrund ab, um die selbstvergessene Geistesabwesenheit des Modells einzufangen. Noch dramatischer sind die Konturen der Hände Forels gestaltet, die mit einer dicken schwarzen Linie gezogen sind.
Abb. 16-2.
Oskar Kokoschka,
Bildnis Auguste Forel (1910).
Öl auf Leinwand.
Bei Strichzeichnungen kann unser Sehsystem aufgrund subtiler Unterschiede in der Behandlung von Linien und Konturen verschiedene mentale Repräsentationen erzeugen. Klimt skizziert mit leichter Hand eine Figur und umgibt sie mit Ornamenten (Abb. 16-3). Schiele bildet seine Figur mit schlichteren Mitteln und stärkerer Betonung der Konturen ab (Abb. 16-4); dabei wendet er Rodins Verfahren an, beim Zeichnen die Augen nicht vom Modell abzuwenden. Schieles kühnere Konturlinien verstärken die Dreidimensionalität seines Bildes und betonen sein Volumen. Außerdem schaffen sie eine elegante und ökonomische Grenze zwischen Figur und Grund. Das Fazit: Obwohl beide Künstler unserem Sehsystem eine ähnliche Repräsentation – eine nackte Frau – darbieten, nehmen wir sie ganz unterschiedlich wahr.
Abb. 16-3.
Gustav Klimt, Liegender Halbakt (1912–1913).
Blaustift auf Papier.
Auch wenn die von Schiele gezeichneten Konturen dreidimensionale Formen mit großer Prägnanz vermitteln, ähneln sie keinen Formen aus der Natur. Objekte der Außenwelt werden, wie die Figuren in Klimts Gemälden, nicht mit einem sichtbaren Umriss vom Hintergrund getrennt. Die Tatsache, dass Bilder mit künstlichen Umrissen so überzeugend sind, gibt uns einen faszinierenden Einblick in die Werkzeuge, die unser Gehirn zur Unterscheidung visueller Objekte nutzt.
Abb. 16-4.
Egon Schiele, Liegender Akt (1918).
Kreide auf Papier.
DER SEHNERV, EIN BIOLOGISCHES KABEL aus über einer Million Axonen, transportiert die von den Ganglienzellen der Netzhaut gefeuerten Aktionspotenziale zum seitlichen Kniehöcker. Diese Struktur ist ein Teil des Thalamus, des Tors und Verteilers für die sensorischen Informationen auf dem Weg zur Großhirnrinde. Hubel und Wiesel begannen ihre Forschungen am Thalamus von Versuchstieren, wo sie entdeckten, dass die Neuronen im seitlichen Kniehöcker ganz ähnliche Eigenschaften wie die in den Ganglienzellen der Netzhaut besitzen. Die Neuronen im seitlichen Kniehöcker haben ebenfalls rezeptive Felder mit On-Zentrum- und Off-Zentrum-Zellen.
Danach untersuchten sie Nervenzellen in der primären Sehrinde. Diese empfangen die Informationen über ein Bild vom seitlichen Kniehöcker und leiten sie an andere Areale der Großhirnrinde weiter. Genau wie die Nervenzellen in der Netzhaut und im seitlichen Kniehöcker ist jedes Neuron der primären Sehrinde hoch spezialisiert und reagiert nur auf Reizung eines ganz bestimmten Teils der Netzhaut – seines eigenen rezeptiven Feldes. Hier machten Hubel und Wiesel jedoch eine bemerkenswerte Entdeckung: Die Neuronen in der primären Sehrinde reproduzieren den Input aus dem seitlichen Kniehöcker nicht einfach getreu der Vorlage – sie extrahieren stattdessen die
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