Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
linearen Aspekte eines Reizes. Weil ihre rezeptiven Felder nicht rund, sondern balkenförmig sind, reagieren diese kortikalen Neuronen am besten auf Konturen – auf eine Linie, ein Quadrat oder ein Rechteck. Sie reagieren auf Linien, die die Ränder eines Bildes definieren oder die Grenze zwischen hellen und dunklen Bereichen markieren.
Abb. 16-5
Zu ihrer größten Verblüffung entdeckten Hubel und Wiesel, dass Neuronen in der primären Sehrinde nicht einfach auf Linien reagieren, sondern auf Linien mit einer bestimmten Orientierung – senkrecht, waagerecht oder schräg. Wenn sich also eine schwarze Linie (oder Kante) vor unseren Augen auf einer Achse dreht und sich dabei der Winkel der Linie zur Senkrechten langsam verändert, feuern unterschiedliche Neuronen in Reaktion auf die verschiedenen Winkel. Einige Neuronen reagieren, wenn die Linie senkrecht steht, andere, wenn sie waagerecht steht, und wieder andere, wenn sie sich in einem schrägen Winkel befindet. Außerdem reagieren die Nervenzellen in der primären Sehrinde, genau wie diejenigen in der Netzhaut (und im seitlichen Kniehöcker), am stärksten auf Unterbrechungen in der Darbietung von Hell und Dunkel (Abb. 16-5, 16-6).
Diese Ergebnisse verdeutlichen auf eindringliche Weise, dass das Säugetierauge keine Kamera ist. Es vermerkt das Bild einer Szene oder einer Person nicht Pixel für Pixel und fängt auch die Farben des Bildes nicht genau ein. Zudem kann das Sehsystem Informationen auswählen und aussortieren, was weder eine Kamera noch ein Computer kann.
Abb. 16-6. 1.
Das rezeptive Feld einer Zelle in der primären Sehrinde wird bestimmt, indem man seine Aktivität registriert, während Lichtbalken auf das rezeptive Feld auf der Netzhaut projiziert werden. Eine waagerechte Linie über den einzelnen Aufzeichnungen der Aktionspotenziale gibt die Dauer der Beleuchtung an. Die Reaktion der Zelle auf einen Lichtbalken ist am stärksten, wenn der Balken im Zentrum ihres rezeptiven Feldes senkrecht ausgerichtet ist.
2.
Die rezeptiven Felder einfacher Zellen in der primären Sehrinde besitzen schmale, langgestreckte Zonen mit erregenden (+) oder hemmenden (–) Bereichen. Obwohl die Reiztypen, auf die sie reagieren, variieren, haben die rezeptiven Felder dieser Hirnrindenzellen drei Merkmale gemeinsam: 1) eine spezifische Position auf der Netzhaut, 2) voneinander getrennte erregende und hemmende Zonen und 3) eine spezifische Orientierungsachse.
3.
Erstmalig von Hubel und Wiesel vorgelegtes Modell für die Organisation von Inputs im rezeptiven Feld einfacher Hirnrindenzellen. Nach diesem Modell empfängt ein Neuron in der primären Sehrinde erregende Verbindungen von drei oder mehr On-Zentrum-Zellen, die gemeinsam Licht repräsentieren, das in einer geraden Linie auf die Netzhaut fällt. Aufgrund dessen besitzt das rezeptive Feld der Hirnrindenzelle einen langgestreckten erregenden Bereich, der in der Abbildung durch die farbige Kontur gekennzeichnet ist. Das hemmende Umfeld wird vermutlich durch Off-Zentrum-Zellen gebildet, deren rezeptive Felder (nicht dargestellt) an die der On-Zentrum-Zellen angrenzen. (Nach Hubel und Wiesel 1962)
Zu Hubels und Wiesels Leistung schreibt Zeki:
Die Entdeckung, dass … Zellen selektiv auf Linien mit einer spezifischen Orientierung reagieren, war ein Meilenstein in der Erforschung des visuellen Gehirns. Physiologen vermuten, dass Zellen, die nur auf bestimmte Orientierungen ansprechen, die physiologischen Bausteine für die neuronale Bearbeitung von Formen sind, obwohl keiner von uns weiß, wie komplexe Formen neurologisch aus Zellen konstruiert werden, die auf etwas reagieren, das wir als die Grundelemente aller Formen betrachten. In gewisser Weise ähneln unsere Suche und unsere Schlussfolgerung dem Vorgehen von Mondrian, Malewitsch und anderen. Mondrian glaubte, die universelle Form, der grundlegende Bestandteil aller anderen komplexen Formen, sei die gerade Linie. Physiologen sehen in genau denjenigen Zellen, die spezifisch auf die – in den Augen zumindest einiger Künstler – universelle Form reagieren, die Bausteine, die dem Nervensystem die Repräsentation komplexerer Formen ermöglichen. Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Beziehung zwischen der Physiologie der Sehrinde und den Schöpfungen von Künstlern eine rein zufällige ist. 140
Die Wichtigkeit der Linie und die Bedeutung der imaginären Linie hatten Künstler im Grunde schon lange vor diesen relativ jungen Entdeckungen der Hirnforschung erfasst.
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